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von Undine Undulanz


ängstlich starre ich in zeiten zunehmenden wellnesswahns nicht nur täglich auf die unzulänglichkeiten meines körpers, der älter wird, an jugend einbüsst und falten aufwirft. mit wachsender panik registriere ich auch meinen zigarettenkonsum. eine ambivalenz entsteht. unterwerfen will ich mich und will mich gleichzeitig nicht unterwerfen: einem rigiden selbst-sorge-programm, in dem klar reguliert wird, welcher teil meines körpers grösser, kleiner, straffer werden muss. schönheit gleich gesundheit. gesundheit gleich schönheit.

gesundheit kostet etwas. sie soll mir etwas wert sein. das sportstudio kostet. der karate kurs kostet. die antifaltencreme kostet. die vitaminpillen kosten. gesundheit ist eine ware geworden. ich gehe einkaufen.

ich erzeuge ein idealbild. von mir selbst. ich und mein körper. ich bekomme angst. ich könnte meine gesundheit einbüssen. ich beginne zu grübeln. ich schlafe schlechter. ich lasse mir ein antidepressivum verschreiben. ich tausche das bild meines gesunden körpers gegen eine neue krankheitskategorie. die therapiemanie greift um sich. ich registriere, wie ich und meine freundInnen plötzlich psychisch krank werden. depression ist eine mode geworden wie vor hundertfüntzig jahren die schwindsucht. ich kleide mich neu ein.

gesundheit ist nicht mehr, wie ich mich fühle. gesundheit bleibt auf einer distanz, entfernt von mir, unerreichbar. ich entwerfe bilder von gesundheit. ich will so sein wie dieses bild. ich scheitere. ich beginne wieder zu grübeln.

bin ich vielleicht HIV-positiv? leide ich an einer unbemerkten hepatitis C? war nicht vor einem halben jahr ein leberwert auffällig? ich will kein risiko eingehen. ich bitte meinen freund, mir alle drei monate ein negatives HIV-test-ergebnis vorzulegen. wir leben eine offene beziehung. man kann schliesslich nie wissen.

ich habe den letzten UN-AIDS-report gelesen. ich freue mich, dass ich hier zulande zugang habe zu wirkungsvollen therapien. ich versuche mich mit diesem argument zu beruhigen. dabei starre ich auf zahlen. sie sind höher als im letzten jahr. ich fühle mich informiert. ich weiss jetzt, dass es schlimm ist da unten in afrika. jetzt. viel schlimmer als vorher. mehr weiss ich nicht. mehr steht auch nicht in dem report. aber ich gehe demonstrieren: HIV-medikamente für afrika. gesundheit gleich medikamente.

ich bilde mich weiter. ich lese info-broschüren. ich weiss was eine T-helferzelle ist. ich mache mir ein bild von meinem immunsystem. ich vestehe jetzt, wie das funktioniert. ich suche im netz. ich finde ein foto von HIV. ich sehe dem feind ins gesicht. ich freue mich, dass das ding auf dem foto so aussieht wie das modell davon und nicht umgekehrt. ich affirmiere die gängigen kategorien. immunschwäche gleich HIV. rauchen gleich lungenkrebs. sich zu viele sorgen machen gleich depression.

ich schlage die SERGEJ auf. ich bin beruhigt. endlich darf die pharmaindustrie überall werbung machen. endlich bin ich nicht mehr auf das angewiesen, was meine ärztin mir erzählt. der markt schafft freiheit. ich fühle mich informiert. zehn sekunden lang bin ich befremdet: die selben firmen, die HIV-medikamente herstellen, verkaufen auch die tests. ich vertraue darauf, dass positiv positiv ist und negativ negativ. serologische testverfahren sind schliesslich einhundert prozent spezifisch. das habe ich gelernt. gesundheit gleich testergebnis negativ. negativ gleich positiv. HIV gleich immunschwäche. bild gleich wirklichkeit.

ich lege mich schlafen und rauche eine zigarette. ich beginne wieder zu grübeln. ich fühle mich schlapp. morgen gehe ich zum test. vielleicht habe ich eine syphilis. die soll auch schlapp machen. das habe ich gelesen. ich fühle mich informiert. gesund fühle ich mich nicht. morgen gehe ich zum test.

außerdem erschienen:
etuxx  Geheimsache SÜK (sexuell übertragbare Krankheiten)
etuxx  Wenn's vorne juckt & hinten beißt (Filzläuse & Krätze)
etuxx  Wenn Frauen zu sehr fließen (Scheideninfektionen)
etuxx  Testen bis der Arzt kommt
etuxx  Der Tropfer (Tripper, Chlamydien)
etuxx  Shigellen
etuxx  Der Arschflokati (Feigwarzen)
etuxx  Siffiges zur Syphilis
etuxx  Hepatitis C - Steht Berlin vor einer Epidemie? update
etuxx  Gay Panic Syndrome - Ist MRSA die neue Schwulenseuche?
etuxx  Rein bevor's kommt! - Impfungen gegen HIV?
m.m.: schöner urbaner wahnsinn! ich mag es einfach ab und zu mit meinen freundinnen über unsere wehwehchen zu klagen, so als seien wir nicht knapp über dreissig sondern mehr als doppelt so alt. gönn uns unsere hypochondrie. die kostet uns kein geld.  
tm2002: Soll ich jetzt zur Prostata-Vorsorgeuntersuchung oder nicht?  
doctordomina: ja! du sollst! gehe in demut! du musst! knie nieder vor den göttern in weiss! das ist ein befehl!  
Travis: natürlich kostet die Hypochondrie Geld. Wenn die Durchschnittstucke pro Monat einen oder zwei HIV-Tests macht, einmal ihren Cholesterinspiegel messen lässt und regelmässig Nervenzusammenbrüche wegen eines ach so beunruhigenden Leberflecken bekommt, dann kostet das sehr wohl Geld. Mensch kann das ja süss finden. "Gönnen" von mir aus sowieso. Aber behaupte nicht, dass es kein Geld kostet.  
Chanel 13: Liebe Undine, ich wünschte mir, die mit Hypochondrie geschlagenen könnten ein bisschen davon abgeben, zum Beispiel einem guten Freund. Seine Zähne verfaulen, weil die Sau nicht zum Zahnarzt geht, weil er Angst hat. (Ich weiß nicht mehr , was ich dem erzählen soll.) Oder einer Bettbekanntschafft, erst 2 Wochen her, der hatte sowas von fuß-verpilzte Stampfer, dass es mir ganz übel wurde. (Ich habe dann noch mehr gesoffen, dann konnte ich's gut übersehen ... )  
Undine: stimmt, solche Menschen kenne ich auch. Wird es wohl immer geben. Immerhin liegen sie quer zum Trend. Fast schon subversiv.  
Travis: zur Pharmawerbung wie z. B. in der vorletzten Sergej findet sich auf den Seiten der Deutschen AIDS Hilfe ein interessanter Artikel  (zurzeit zweiter von oben)
jemand ratloses: also ist gesundheit = ware, wie körper = ware. würde gern wissen warum oder besser gesagt wie sich das entwickelt hat. mal ins blaue geschossen: kommt das durch angst vor versagen, ausfällen oder generell angst vor dem tod? ... ach ja, gut gelayouteter text, ohne moralkeule - danke  
kim: hat jemand die unglaublich beschissene rechtfertigung des sergej herausgebers gelesen? von wegen wir sollten der pharmaindustrie dankbar sein? auch für ihre noch so beschissenen werbekampagnen?