Rezensionen im Kulturhaus "Ernst Meibeck" haben ja schon Tradition. PS: Liebend gerne könnt Ihr Eure Favourites hier vorstellen und besprechen. Das müssen nicht immer Lieblingsbücher sein. Warnungen vor Kulturschrott sind auch manchmal ganz hilfreich und lassen den Frust über den Fehlkauf besser verarbeiten. Oder habt Ihr eine Lieblings-CD oder ein wundervolles Toy? Macht es öffentlich und lasst andere an Eurem Glück teilhaben! Eine Mail an uns genügt: redaktion[at]etuxx.com

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Cover

Dr. phil Volker Woltersdorff
aka Lore Logorrhöe
hier auf dem Titel ihres Buches.
Sie ist Mitglied von etuxx
und wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Institut für Literaturwissenschaft
der FU Berlin


Coming OUT.
Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung

300 Seiten
24,90 Euro
ISBN 3-593-37851-5




Coming IN and Coming OUT

Sind wir nicht alle ein bisschen Coming Out, mal mehr oder weniger In oder Out? Erst neulich auf meinem Weg nach Babelsberg. Zwischen Schöneberg und Zehlendorf stiegen zwei jüngere Typen in die S-Bahn, die mit ihren Baggys und den dazugehörenden Kapuzenshirts die Inszenierung „HipHop On The Tracks“ aufführten. So weit so sexy, dachte ich mir und wollte mich wieder in die Lektüre meines Buches vertiefen, was mir aber nicht mehr gelang. Denn beide hatten mir gegenüber Platz genommen und begannen zu tuscheln. Es war der Titel des Buches, der ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte: „Coming Out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung“. Plötzlich war es wieder da: Mein Bedürfnis nach Erklärung und Selbstbehauptung. Das Gefühl, etwas sagen zu müssen und deutlich zu werden. Etwas, das mich an früher erinnerte, die Zeiten meines eigenen Coming Out.

Nun also hat sich Frau Doktor dieses Themas angenommen, in ihrer Doktor-Arbeit. Sie ist damit endlich auch hochkulturell das geworden, was sie subkulturell längst schon war. Frau Doktor ist nun auch Herr Doktor. Sein Bericht einer literaturwissenschaftlichen Forschungsreise durch dreißig Jahre schwule Identität hat es ihr möglich gemacht, und ich gratuliere. Denn wer sich auf diese Reise mitnehmen lässt, muss zwar viele ungestörte S-Bahn-Fahrten machen, erhält aber dadurch einen neuen und sehr viel tieferen Einblick in die Materie. Coming Out ist eben nicht nur die mehr oder weniger geglückte Selbstbehauptung. Unter den heutigen, vornehmlich westlichen Verwertungs-Bedingungen hat es viel von seinem emanzipatorischen Potential eingebüßt. Wir lernen, dass das im Wesen des Coming Out bereits angelegt ist, denn das schwule Bekenntnis war schon immer beides zugleich: Anpassung an gesellschaftliche Norm und Auflehnung dagegen. Die Doktoren Logorrhöe und Woltersdorff behaupten, dass es hier nur eine Verschiebung gegeben hat. In Richtung Anpassung nämlich, als anerkannter Teil eines allgemeinen Selbstfindungs- und Individualisierungsprozesses, der ja inzwischen Mode ist. Den Blick in andere Länder, wie z.B. jetzt gerade wieder Polen ausgenommen.

Die Arbeit steht in direkter Fortsetzung der Kritik an der Identitätspolitik, wie sie in Auflehnung gegen den Mythos „Stonewall“ (nicht das Ereignis) Ende der 80er Jahre vornehmlich in den USA laut wurde. Neu innerhalb dieser Entmythologisierungs-Debatte ist die Art der Betrachtung, der Fokus auf das Performative, den Prozess der Darstellung schwuler Identitäten zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. Neu und gewinnbringend ist auch der interdisziplinäre Ansatz, mit dem hier der Werk-Begriff der Literaturwissenschaften gesprengt wird, indem das Coming Out selbst zum Werk erklärt wird. Durch diesen Kunstgriff meisterlicher Hand eröffnet sich eine Fülle an Coming Out Material. Neben Lyrik, Prosa und Autobiografien sind es auch theoretische und politische Schriften, die analysiert werden, Ratgeber, Filme, Fernsehsendungen und Fotografien. Selbst das Internet und die eigenen Erfahrungen in der Szene bleiben nicht außen vor.

Der trockene und für Außenstehende oftmals nur schwer nachvollziehbare Theorie-Diskurs erhält gerade dadurch immer wieder so viel Saft, dass man als Normalsterbliche dranbleibt. Auch die klare Gliederung in drei ungefähr gleichgroße Teile mit einer Einleitung und einem Ausblick stimmt versöhnlich, weil dadurch die permanente Gefahr der Desorientierung innerhalb des philosophischen Diskurses weitestgehend gebannt ist. Nach einer historischen Analyse (Kapitel 2+3), in der das Konzept des Coming Out und seine Praxis in den vergangenen drei Jahrzehnten nachskizziert wird , untersucht Teil Zwei (Kapitel 4+5) in einem Theoriediskurs die Dialektik des Coming Out Prozesses im Spannungsfeld zwischen Normativität und der Ideologie, die das Coming Out selbst produziert. Dabei wird deutlich, wie das Bekenntnis zu einer politischen Strategie geworden ist, indem sich individuelle Lebensentwürfe politisierten. Mit der damit einhergehenden Zunahme an Normalisierung ging das subversive Potenzial immer mehr verloren, ist aber nicht völlig verschwunden, was Anlass zu Hoffnung gibt. Der dritte und letzte Teil (Kapitel 6) befasst sich schließlich mit den Motiven des Coming Out in seiner wandelnden Ästhetik. Wer sich hier ein bisschen mit Foucault auskennt, wird verstehen, wo die heutigen Grenzen der von ihm propagierten Technologie des Selbst liegen.

Leider wirkt das Vorhaben, möglichst viel in den Theorie-Diskurs einzubinden, am Ende doch mehr distanziert als teilnehmend. Das Versprechen persönlicher Anteilnahme wird nicht ganz eingelöst. Der Diskurs verlässt nicht wirklich den Schreibtisch, weshalb der Eindruck zurückbleibt, bei aller Bemühung nicht auf den Punkt gekommen zu sein. Wissenschaft und gelebtes Leben sind eben doch verschieden, und auch der für Frau Doktor typische Logorrhöe-Stil, die Lust am Gezwirbelten, wirkt da nicht gerade vermittelnd.

Die Arbeit ist dennoch ein Muss für alle, die schwulenpolitisch arbeiten, was immer auch heißt identitäten-politisch. Sie liest sich streckenweise auch richtig spannend. Als S-Bahn-Lektüre ist sie allerdings nur geeignet, wenn eine Einzelfahrt über mindestens fünfzehn Stationen geht. Da schafft die Normalsterbliche mit einiger Konzentration ungefähr zehn der 300 Seiten. Wenn keiner intelligent Akkordeon spielt oder blöd rumtuschelt.

Baella van Baden-Babelsberg

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Cover
Thomas Weins
total perfekt alles
Männerschwarmskript
ISBN 3-935596-75-8
geb. 288 S. 18 €
total perfekt alles

Eine Rezensentin ist keine Richterin. Also darf sie auch befangen sein. Im Falle dieses Buches und seiner Thematik ist sie es. Und zwar ganz und gar. Sie lebte zwar nicht selbst auf den Bauwagenplätzen an der Spree, aber sie war dort oft zu Besuch. Sie hat auch schon in Bauwagen getagt und genächtigt, und sie kennt den Autor, wenn auch nur flüchtig. Sie findet sich in den Beschreibungen wieder, in der Bewegung zwischen zwei Welten. Hier am Fluss, das einfache Leben, dort die Stadt, total perfekt alles.

Erzählt wird die Geschichte von Martin und seinem Leben auf einem Bauwagenplatz, genauer auf Bauwagenplätzen, die es nicht mehr gibt. Schon deshalb ist das Ganze traurig. Berlin. Schwarzer Kanal, Schillingbrücke, East-Side-Gallery. Die Gewerkschaft hat dort verdrängt. Dem feisten Klinkerglasgebäude zwinkert auf der anderen Seite ein ebenso feistes aber gelangweiltes Hotel zu. Noch trauriger ist die Geschichte deshalb, weil sie von verhinderter Liebe handelt. Von Freunden, die Martin verliert. An AIDS, an Drogen, vor allem aber an die Unfähigkeit zu kommunizieren. In der Szene war und ist (?) das leider verbreitet. Die Beschreibungen sind detailliert und wirken an vielen Stellen schon zwanghaft penibel und realistisch. Es fehlt wohl dem Autor an Mut zur Poesie. Doch wer sich daran stößt, hat nicht begriffen, worum es geht. „total perfekt alles“ ist keine Liebesgeschichte, die erst auf Seite 100 beginnt, wie sich jüngst ein Kritiker gelangweilt äußerte. Auch ist es keine Kriminalgeschichte, wie man zunächst vermuten könnte, weil alles mit dem Fund einer Wasserleiche beginnt. Die Geschichte liest sich am ehesten als Versuch, literarisch an einem Leben festzuhalten, das das Neue Berlin nicht mehr duldet. Schon deshalb ist sie es wert gelesen zu werden. Und weil die nächste Räumung schon bevorsteht.

Es wäre schön, wenn es den Leserinnen und Lesern gerade deshalb gelänge, sich auf den Roman einzulassen. Auch wenn diese Art von Poesie den Unbedarften nicht gleich erreicht. Auch wenn die Gefahr besteht, dass die Biotope verschlossen bleiben, weil der Autor zu sehr auf Empathie setzt. Denn was Landwoche, Café Anal oder das Wohnprojekt ZIK sind bzw. waren, erschließt sich nicht automatisch durch bloße Erwähnung oder Beschreibung. Auch nicht, was es bedeutet, einen lieben Freund über viele Wochen in einer fremden Krankenhauswelt sterben sehen zu müssen. Doch halt. Gerade hier hat der Roman wiederum seine Stärke: Denn der alltägliche Wahnsinn entlarvt sich in nüchternen Beschreibungen immer noch am besten.

„total perfekt alles“ ist der erste Roman von Thomas Weins. Das Schreiben daran hat ihm Spass bereitet. Das sagte er mir, und ich glaube auch, dass diese Lust am Schreiben auf Leser und Leserinnen überspringt. Vielleicht hat der Roman deshalb einen Verlag gefunden. Vielleicht auch, weil den Beschreibungen etwas Exotisches anhaften muss. Wer heizt schon heute noch mit Kohlen, geschweige denn, klaut sie um Mitternacht aus einem Lagerschuppen? Wer scheißt schon in einen Eimer, der neben dem Bett steht, weil es draußen zu kalt ist? Ich finde, wenn Sie das schon nicht erlebt haben, sollten Sie es zumindest mal gelesen haben.

Baella van Baden-Babelsberg

off: buch gelesen. geweint. nicht weil's ne sozialromantische schmonzette wäre. sondern ein ziemlich nüchterner und emational schon fast distanzierter bericht über ein schwules leben jenseits von dem bild, das wir uns so gerne von uns selber machen - auch jenseits des alternativ halligalli im cafe anal und in der rattenbar. erst war ich ja ziemlich skeptisch (und zum fünften mal wird das anheizen des ofens beschrieben...), aber die krankheitsgeschichte von klaus und die probleme, die seine umgebung damit hat bzw. die unpathetische, solidarische weise, wie die wenigen freunde damit umgehen: das hat so noch niemad geschrieben. oder ich habs bisher überlesen.  
thomas.weins@site-x.org: Vielen Dank für die nette Kritik; ohne wäre fast keiner zu meiner Lesung gestern abend gekommen. Ich werde noch am 27.10. um 19.30Uhr im Cafe Posithiv auftreten, am 6.11. um 19Uhr im Möbel Olfe. Wäre nett, wenn ihr das evtl. ergänzt. Warme Grüße Thomas  
Auch Befangener: Wie die Rezensentin bin auch ich befangen, mich hat man seinerzeit vom Wagenplatz gescheucht ... dort würde gewohnt ... . Die Freiheit, die sie meinten, war wohl nicht die meine. Heute darf ich vor ver.die am Spreeufer sitzen - jetzt ist aber nicht mehr schön da.  
bambule: mich hat das buch unglaublich berührt. sehr schön beobachtet alles. das heizen des ofens, die sterbebegleitung und der abschied.... hab auch sehr geheult...  
beate bronski: ich habe den tag lesend, lachend und weinend verbracht. ohne die rezension hätte ich das buch wahrscheinlich übersehen oder nicht beachtet. merci.  
romantikerin: bin noch nicht ganz durch, hab also kein abschließendes urteil. aber den fehlenden mut zur poesie habe ich leider auch beobachtet. vielleicht kommt der ja beim zweiten oder dritten buch. war verblüfft, in welch konventionellen formen - ein paar szene-ausdrücke abgesehen - der roman doch ziemlich unkonventionelle lebensgeschichten zu erzählen versucht. hätte mir etwas mehr poesie gewünscht  
kraischkowka: deinen Worten, liebe baella, kann ich doch nur voll und ganz zustimmen. Habs auch gerade durchgelesen. Aber mit Kohle möchte ich auch nie wieder heizen... Wobei sich mir überhaupt nicht erschliesst, wie das Buch auf "Unbefangene" wirkt. (ich kenne mal wieder nur "Befangene")  
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Matthias Haase,
Marc Siegel,
Michaela Wünsch (Hg.)

Outside
Die Politik queerer Räume

2005 · 320 S. · 14,80 €
ISBN 3-933557-25-9
Outside. Die Politik Queerer Räume.

Als "Queere Räume" bezeichnen die HerausgeberInnen des Sammelbands Outside. Die Politik Queerer Räume, "jene Bars, Clubs, Galerien, Kinos und Theater, jene Straßenecken und Winkel im Park, die das Versprechen der Nacht bergen - jene Orte, an denen das Warten eine Einladung ist" (7). Es soll also u.a. um Cruising, Klappen und anonymen Sex gehen. Beim Lesen der durchweg interessanten Beiträge von zum Teil sehr berühmten VetreterInnen der angloamerikanischen queeren Theorie zeigt sich dann aber, dass diese queeren Räume oft gar nicht erst betreten werden. Stattdessen thematisieren die AutorInnen ganz unterschiedliche Aspekte, die für schwullesbische und queerer Kultur, Politik und Forschung bedeutsam sind. Wenn es in einem Beitrag dann doch mal um Klappensex geht, wird es gar nicht besonders deutlich, denn Tearoom, englischer queer-Slang für Klappe, wird hier mit dem Wort Teestube übersetzt. Die Mühen der HerausgeberInnen haben sich aber in jedem Fall gelohnt, denn Outside könnte neben der Übersetzung von Annamarie Jagoses Buch Queer Theory eine wichtige Grundlage für eine politische Neubewertung des oft unklaren Begriffs queer im deutschen Sprachraum werden.

Einige Beiträge sind sehr voraussetzungsreich. Der erste Beitrag "Queere Performativität: Henry James' ‚The Art of the Novel'" von Eve Kosofsky Sedgwick bezieht sich auf Judith Butlers Begriff der Performativität und ist ohne Kenntnis dieses Theoriegebäudes eher mühsam zu lesen. Cindy Pattons Beitrag "Von der Sichtbarkeit zum Aufstand: Ein Manifest" bleibt ohne eine genaue zeitliche und kulturelle Kontextualisierung nahezu unverständlich. Es handelt sich bei diesem Text um das Schlusskapitel des Buchs Fatal Advice: How Safe Sex Education Went Wrong (1996). Wie es aber zu der Grundannahme, dass die Safer Sex Kampagnen in den USA fehlgeschlagen sind, kommt, lässt sich im abgedruckten Schlusskapitel nur erahnen. Hier wäre es hilfreich gewesen, wenn zusätzlich Teile aus den vorderen Kapiteln des Buchs übersetzt worden wären. Eine kurze Erläuterung der besonderen Bedingungen, unter denen Aids-Aktivismus und Safer-Sex Kampagnen in den USA entstanden sind, wäre mit Blick auf diesen Beitrag sehr sinnvoll gewesen.

Andere Beiträge lassen sich leichter mit aktuellen politischen Debatten, die auch auf etuxx geführt werden, in Beziehung setzen. Im Licht der Vorfälle bei der diesjährigen Queeruption in Barcelona ist vor allem der Beitrag "Sex in der Öffentlichkeit" von Lauren Berlant und Michael Warner interessant. In Barcelona wurde eine "queere" Aktion, bei der das Schwulenviertel von Barcelona und die dortigen kommerziellen Strukturen kritisiert werden sollten, durchgeführt. Bei der Aktion wurde ein schwules Hotel angegriffen, Scheiben gingen zu Bruch. Anders als die AktivistInnen der Queeruption lehnen Warner und Berlant kommerzielle schwullesbische Läden nicht kategorisch ab. Sie beschreiben stattdessen detailliert, auf welche Weise schwullesbisch/queere kommerzielle Strukturen zu queerer Sichtbarkeit beitragen und daher auch politisch bedeutsam sind. Am Beispiel von New York verdeutlichen sie, wie konservative Kräfte beabsichtigen, kommerzielle schwule Sexclubs aus dem großstädtischen schwullesbischen/queeren Viertel durch Verbote zu verdrängen, um somit die gesamte Infrastruktur und Sichtbarkeit und damit auch schwullesbisch/queere politische Einflussmöglichkeiten zu schwächen. Auf der Grundlage von Warners und Berlants Text lässt sich fragen, ob es sich bei der bei der militanten Kritik der Queeruption an einem kommerziellen schwulen Hotel genau wie beim Verbot schwuler kommerzieller Sexclubs durch die konservative Stadtpolitik um einen Angriff auf eine der Grundlagen queerer Politik handeln könnte. Dieser Beitrag ist außerdem für alle interessant, die wissen wollen, was es mit dem Begriff Heteronormativität auf sich hat.

Robert Reid-Pharr bezeichnet sich selbst strategisch als black gay man, und so lautet auch der Titel seiner aktuellen Aufsatzsammlung. Der Text Dinge [sprich: dindsch] ist diesem Buch entnommen. In der englischsprachigen Schwulenszene werden Weiße, die Schwarze begehren als Dinge Queens bezeichnet, und Schwarze, die Weiße begehren, als Snow Queens. Reid-Pharr kombiniert persönliche Erfahrungen als schwarzer Schwuler in der von Weißen dominierten Schwulenszene mit einer Analyse von James Baldwins Roman Another Country (1960) [dt. Eine Andere Welt]. Er kritisiert die Tatsache, dass es nahezu keine weißen schwulen Künstler und Intellektuellen gibt, die sich damit auseinandersetzen, dass sich ihr Begehren möglicherweise auf schwarze Männer richtet. Schwarze schwule Künstler hingegen, z.B. Isaac Julien, Samuel R. Delany, Melvin Dixon, Essex Hemphill und andere, setzen sich schon lange und auf unterschiedliche Arten mit dem auf Weiße gerichteten Begehren schwarzer Schwuler auseinander. Reid-Pharr argumentiert dafür, dass das Schweigen der Weißen einem spezifischen Zweck dient: es ist eine der Möglichkeiten, die Idee vom universellen Weißsein aufrecht zu erhalten. Er fordert, Sexualität nicht länger als etwas zu begreifen, das außerhalb gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse stattfindet. Stattdessen sollen sich alle der Aufgabe stellen "unser Begehren klar auszudrücken und darauf zu achten, was wir denken, wenn wir ficken" (51). Weiße Männer haben hier die besondere Aufgabe, die "Bequemlichkeiten der Naivität, der banalen Gesten rassistischer Vereinnahmung aufzugeben" (51). Die Übersetzung von Reid-Pharrs Text eignet sich gut als Grundlage für schwule Politgruppen wie die Homolandwoche, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Weißsein, schwuler Identität und Rassismus auseinandersetzen möchten.

In dem Beitrag "Lederlesben Boys und ihre Daddies. Anleitung zum Sex ohne Frauen und Männer" nimmt C. Jacob Hale seine Erfahrungen als Lederlesben Boy mit seinem Lederlesben Daddy zum Anlass zu untersuchen "wie das lederlesbische Spiel mit dem Geschlecht als Mittel der Geschlechterinfragestellung, -verfestigung, -destabilisierung, -rekonfiguration und des Geschlechterwiderstands fungiert" (128). Der Text ist gerade aufgrund der gelungenen Kombination von persönlichen Erfahrungen und ihrer Einbettung in queere Theorie sehr spannend zu lesen. An Judith Halberstams Beitrag über die unterschiedlichen medialen Verarbeitungen des Mordes an Brandon Teena sind vor allem ihre selbstkritischen Überlegungen zum Zusammenhang von Metropole, Provinz und queerer Kultur interessant. Sie kritisiert, dass die verbreitete und wirkmächtige Annahme vom uneigentlichen und versteckten Leben in der Provinz, vom befreienden Coming Out, dem notwendigen Umzug in die Großstadt und dem dortigen schillernden queeren Leben der Vielfältigkeit queerer Lebensweisen auf dem Land nicht gerecht wird. Für diese großstädtische normative Vereinnahmung queerer Lebensgeschichten verwendet sie den Begriff Metronormativität.

Zwei Beiträge zu südasiatischen Sexualitäten und dem Begriff der Disapora, zwei filmtheoretische Beiträge zu Gespensterfilmen mit "gruseligen lesbischen Untertönen" und Andy Warhol und ein Beitrag über Neil Bartletts Roman Alles von mir (1990) machen den Sammelband komplett.

Mit Blick auf die unterschiedlichen und theoretisch anspruchsvollen Texte wäre es schön, wenn die Leserin in der Einleitung ein wenig an die Hand genommen würde. Aber anstatt auf die AutorInnen, die Fundorte der Originaltexte oder ihre Bedeutung für die queere Theorie einzugehen, anstatt die Gründe zu betrachten, die von schwullesbischer Identitätspolitik zu queerer Theorie und Politik geführt haben und identitätspolitische Ansätze und Begriffe im angloamerikanischen und deutschen Sprachraum zu vergleichen, grenzt Matthias Haase sich im Namen der HerausgeberInnen übertrieben deutlich von den seiner Meinung nach überholten und ausgrenzenden identitätspolitischen Ansätzen der Schwulen- und Lesbenbewegung ab. Zudem wird nicht ganz klar, aus welchem Grund die 12 Texte aus den Jahren 1993-2002 ausgerechnet zum Thema "Queere Räume" ausgewählt, übersetzt und zusammengestellt wurden. Die Titel der empfehlenswerten Auswahlbibliographie am Ende des Buchs wurden sorgfältig ausgesucht, und das Buch ist wieder so hübsch geworden, wie wir es vom Verlag b_books gewohnt sind.

Beate Bronski

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1-0-1 INTERSEX
Das Zwei- Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung

Katalog zur Ausstellung.
Berlin 2005.

Mit einer Einleitung
von Leonie Baumann.

192 Seiten mit 75 teils farbigen Abbildungen.

Verlag: NGBK Berlin

Preis: 15-18 Euro
1-0-1 (ONE-O-ONE) INTERSEX
Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung


Der Katalog zur Ausstellung. Mit einer Einleitung von Leonie Baumann.


Erinnern Sie sich noch an meine Kulturhausgespräche mit multiidentischen Persönlichkeiten? Na schauen Sie nochmal nach. Wenn es um Intersex geht, das hätte die Austellung in Berlin sicher bereichern können. Aber nun gut. „1-0-1 intersex“ jedenfalls ist ein Buch und eine Ausstellung. Letztere lassen wir mal etwas beiseite, die ist eh rum, und das Buch ist sowieso besser. „1-0-1 intersex“ thematisiert „Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung“. Kein erbauliches Thema.

„One-O-One“ das könnte auch für „Oh-Oh-Oh!“ stehen, den empörten Ausruf in Anbetracht desolater Zustände in der Geschlechterfrage. Vielleicht kommt Geschlecht ja doch von schlecht. Denn wer das Gebiet mit wachem Auge betritt, begegnet Tabus und Verletzungen, Standesdünkel und Ignoranz, vor allem aber der Gewalt in ihren subtilsten Formen. Erklärtes Ziel der Ausstellungsgruppe war es denn auch, bloß keine Schau über Hermaphroditen zu machen sondern aufzuklären. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die nicht in das bipolare Geschlechtersystem von Mann und Frau passen wollen, können, müssen. Und über den geringen Grad gesellschaftlicher Eigenreflexion.

Vor diesem Hintergrund, den das Buch mit seinen ganz unterschiedlichen Beiträgen plausibel beschreibt, bekommen die künstlerischen Äußerungen der Ausstellung noch einmal ein neues Gewicht. Anders gesagt: die Ausstellung ist ohne das Buch nur halb soviel wert, was umgekehrt nicht behauptet werden kann. Denn neben den Hintergrundinformationen zu den Ausstellungs-Objekten enthält es Beiträge, die das Thema eben auch ganz rational und sachlich angehen. Was unbedingt notwendig ist. Gerade die historisch-kritischen, juristischen und medizin-kritischen Texte sind es, die das Lesen dieser fast 200 Seiten zu einem echten Gewinn machen. „1-O-1 Intersex“ sollte, das sei deshalb schon jetzt gesagt, mindestens in jedem hausärztlichen Bücherschrank stehen. Gelesen, versteht sich.

Der Aufbau des Buches ist logisch und dokumentiert wie mir scheint auch die Herangehensweise der MacherInnen. Gleich zu Beginn kommen Intersexe zu Wort, die ihre Erwartungen von einem solchen Projekt beschreiben sollen. Die Antworten sind allerdings etwas enttäuschend, weil zu dürftig. Unklar bleibt auch, ob es mehrere waren, die antworteten, oder ob es sich um einen Extrakt handelt. Noch hinführend zum Thema - weil das Problem als solches benennend - lesen sich die ersten vierzig Seiten, mit Beiträgen von Roz Mortimer zu ihrem Film „Gender Trouble“, Barbara Jane Thomas zu „Intersex Interventionen“ und Ins A Kromminga über „Die Borniertheit der Toleranz“. Alle AutorInnen beleuchten das Problem aus ihrer Sicht, indem sie den status quo beschreiben - so, wie er ist, vor allem aber auch, wie sie ihn erleben. Nanna Lüth liefert mit ihrem Beitrag „Schweigen ist gleich Verstümmelung“ eine betont subjektive Auswahl dessen, was die Ausstellung bietet. Das macht Lust auf mehr.

Schließlich ist es die folgende Mischung aus Reflektion und Deskription, die mich an das Buch fesselte. Dass die Kunstbeschreibungen im Vergleich zu den Expertisen da etwas fade wirken, erklärt sich von selbst. Der Kuchen ist eben mehr als das Rezept. Bestes Beispiel dafür ist “move me - mo vie“, eine Video-Projektion von Tyyne Claudia Pollmann. Figuren, auf ihre körperlichen Ränder und Konturen reduziert, verändern sich nur langsam und kaum merklich. Erst nach längerem Hinsehen bemerke ich, dass da etwas passiert. Ich beginne zu suchen, in Konturen, die sich auflösen und neu formieren, neue Figuren zu erkennen. Und lerne schließlich etwas über meine eigene Wahrnehmung. So etwas kann das Buch natürlich nicht leisten.

Dafür aber kann es Hilfestellung sein und ist es auch. „Love Bomb“ von Terre Thaemlitz beispielsweise. Die Zerschlagung eines Konsens, dass Liebe immer nur Schönes und Gutes meint. Wirklich erschlossen hat sich mir das Spektakel auf Großbildleinwand erst, nachdem ich mehr über Idee und Hintergrund nachlesen konnte.

„1-0-1 Intersex“ wirkt in seinen Fallbeschreibungen einzelner Schicksale manchmal etwas redundant, was dem Buch in seiner Gesamtheit aber nicht schadet. Im Falle Magnus Hirschfelds könnte Redundanz sogar als dramaturgisches Mittel eingesetzt sein. Die beiden Artikel von Kaharina Sykora und Rainer Herrn zeigen die Ambivalenz einer sich neu formierenden Sexualwissenschaft, die einerseits aufklärend wirkte, andererseits durch ihren Zuordnungs- und Kategorisierungswahn in späteren Zeiten ihre repressive Wirkung erst richtig entfaltete.

Aus der Fülle der unterschiedlichen Bearbeitungen des Themas möchte ich noch einige Beiträge erwähnen, die das Kaleidoskop auf ihre Weise bunter und reicher machen: Kerstin Palm stellt sich in ihrem Artikel „Biologie der Befreiung“ die Frage, ob der Befreiungsschlag gegen das Zweigeschlechter-System auf Grundlage epistemologischer Betrachtungen oder besser ontologisch geführt werden soll, so, wie es beispielsweise Judith Butler angeht. Palm kommt zu dem Schluss, dass der biologische Ansatz letztendlich doch schneller zum Ziel führt, auch wenn er auf Grundlage eines Biologismus operiert, der eigentlich abgelehnt wird. Damit ist der Grundwiderspruch zwischen Theorie und Praxis wunderbar beschrieben.

Konkret wird er in den strategischen Überlegungen von Ins A Kromminga über „Fragwürdige Identitäten - Spiel der Geschlechter“, einem Plädoyer für einen gemeinsamen Kampf von Intersexen mit der LGBTQ-Szene, (lesbian, gay, bi, transgender, queer) trotz deutlicher Unterschiede in Herkunft und Zielsetzung. Dass derartige Überlegungen ohne eine tiefergehende Analyse der Geschichte nicht auskommen, zeigen die Beiträge von Andrea Bronstering und Fabian Krämer. Bronstering beschreibt den „vokalen Zwischenraum - Die Kultivierung der Zweigeschlechtlichkeit in der Musik“ und liefert einen kurzen Abriss der Geschichte der Oper unter der besonderen Fragestellung, welche ambivalente Rolle die Kastraten in höfischer Gesellschaft spielten. Krämer schließlich beschäftigt sich mit dem Auftauchen des Hermaphroditen in der Neuzeit, der ab etwa 1600 u.Z. zum vieldiskutierten Thema wissenschaftlicher Erörterungen wird. Krämer widerlegt die These Foucaults, dass Hermaphroditen im Mittelalter ihr Geschlecht frei wählen konnten. Auch gab es nicht die Kontinuität des Wissens über Hermaphroditismus über Mittelater und Renaissance hinweg, wie sie Foucault beschrieben sehen wollte. Stattdessen bildete sich bereits in der frühen Neuzeit ein Dispositiv heraus, das medizinisches Wissen und Gesetze miteinander verbindet, mit dem fatalen Imperativ, Eindeutigkeit herzustellen.

Die Infragestellung dieser kulturell bedingten Eindeutigkeit kommt folgerichtig gegen Ende des Buches immer offensiver zum Ausdruck. Wie brüchig die Eindeutigkeit tatsächlich ist, macht Oliver Tolmein in seiner Analyse der geltenden Gesetze deutlich. Der Jurist schildert hier noch einmal, dass Zwei-Geschlechtlichkeit in der Gesetzgebung nirgends verbrieft ist, sondern immer nur vorausgesetzt wird. Diesbezüglich stellte das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 mehr Rechtssicherheit her als es das heutige Bürgerliche Gesetzbuch tut. Und damals wurde die Existenz von Hermaphroditen noch rechtlich anerkannt. Tolmein macht deutlich: Es gibt nur gesellschaftliche und keine naturwissenschaftlichen Setzungen. Und es gibt keine wirkliche Rechtssicherheit. Weshalb sich operative Eingriffe mit dem Ziel, Geschlechtseindeutigkeit herzustellen, genaugenommen immer am Rande der Illegalität bewegen.

Genug Stoff also, um das Thema „Intersex“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit diesem Buch in der Hand dürfte das nicht schwer fallen. Und weitere Ausstellungsorte sind avisiert.

Baella van Baden-Babelsberg

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PapyRossa,
Köln 2004, 165 S., br., 18,50 €)
Gudrun Perko und Leah Carola Czollek (Hg.):
Lust am Denken.
Queeres im experimentellen Raum jenseits kultureller Verortungen


Ein weiteres Buch über Queer aus dem Wissenschaftsbetrieb erwartet die/den LeserIn. Queer gilt als Platzhalter für theoretische und praktische Kritik der hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität als ihrer Voraussetzung; daran anschließend wollen sich Perko/Czollek gegen Einheit und Eindeutigkeit wenden und jeweils Ambivalenz, Differenz und Pluralität präferieren.

Heiko Kleve mag die Idee des "Nicht-Identischen" und sieht die Einheit der Welt in der Vielfalt und Differenz. Auf zweieinhalb Seiten handelt er Kant, Hegel und Marx ab, die bei ihm für "Identitätsdenken" stehen: Bei Marx entwickle sich "Geschichte gesetzmäßig hin zu einer höheren Ordnung und erreiche schließlich den Kommunismus", in welchem sich alle Widersprüche auflösten und Differenz (das Zauberwort) nivelliert werde - das müsse man doch ablehnen. Dann erklimmt er seine Höhen: Lyotard und Luhmann hätten das Identitätsdenken hinter sich gelassen und den Horizont zur Überwindung der Identität eröffnet. Kleves Utopie heißt dann "tätiges Offenhalten des Offenen" und kommt ohne ein Wort über gesellschaftliche Widersprüche aus.

Da ist er nicht allein: Perko betont, sie ignoriere "selbstverständlich die Tatsache struktureller Gewalt nicht", um genau dies zu tun. Sie hebt die Unbestimmtheit und das Anders-Sein des Subjekts hervor, und Queer figuriert dabei als "das Seinlassen von Mehrdeutigkeiten, das Eröffnen von Möglichkeiten und Räumen für vielfältige Ausdrucksformen (v.a. von Geschlecht, Sexualität, Begehren)". Dass Anerkennung des bzw. Interesse am Anderen nach ihrem "ethischen Entwurf" auf Basis der "Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948" erreicht werden sollen, hält sie selbst für "radikal". - Czollek plädiert dafür, das "Gender Mainstreaming" um "Queer" und "Interkulturalität" zu erweitern. Dabei bleibt ihre Kritik am Konzept selbst bescheiden. Sie lobt das Auswärtige Amt, weil es auf seiner Website Maßnahmen zur Eindämmung von Prostitution bei SFOR/KFOR-Einsätzen aufweist. Dass aber eine queere Kritik auch den Einsätzen selbst und den dahinterstehenden Staaten gelten könnte, kommt ihr nicht in den Sinn.

Wenn dieses Buch stellvertretend für die Queer Theory stehen würde, wäre sie ein zahnloser Hund. Nur einer der Texte deutet an, wohin diese Theorie zu denken weiß: Harkan Gürses stellt Queer in den Rahmen gesellschaftlicher Kämpfe und neuer sozialer Bewegungen. Kritik als "ortlose Kritik" ist ihm die treibende Kraft, die keine Identität benötigt, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzugreifen. Um seine Ablehnung der Identitätspolitik nicht mystisch werden zu lassen, unterscheidet er das Subjekt in eines der Repräsentation und eines der Handlung: er will eine nicht-normative Kritik, die nicht ein Subjekt konstruiert, in dessen Namen sich die Kritik nachträglich legitimieren muss. In Anlehnung an Holloway scheint ihm die Zurückweisung des Bestehenden auch als Schrei dagegen möglich. Damit wird die Gesellschaftskritik dann leider doch schwammig, denn der negative Schrei bei Holloway zählt bereits das Verfluchen des Weckers unter den Kampf gegen Ausbeutung.

Fast alles, was der Sampler als kritische Praxis behauptet, entpuppt sich bald als leeres Gerede. So steht er exemplarisch für die Ausblendung gesellschaftlicher Widersprüche in einem Teil des Theoriefelds, das sich auf Queer beruft. Die im Titel versprochene "Lust am Denken" wird einem jedenfalls fast verleidet.

Bodo Niendel

Die Rezension wurde zuerst in
Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Nr. 260 veröffentlicht.
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Hamburg 2004
VSA-Verlag
160 Seiten
14,80 €

Alex Callinicos: Ein Antikapitalistisches Manifest

Das schmale Büchlein versteht sich als Antwort auf die gegenwärtigen Bewegungsformen des global agierenden Kapitals. Der Autor ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität von New Yorck in Großbritannien und einer der bekanntesten Aktivisten der weltweiten Sozialforumsbewegungen. Er lehnt seine Kritik an "das Kommunistische Manifest " an und führt Gesellschaftsanalyse und politische Praxis zusammen. In drei Abschnitten beschreibt der Autor unter Rückgriff auf den marxistischen Theoriefundus die Globalisierungsprozesse und ihre verheerenden Folgen, bietet einen Überblick über die globalisierungskritische Bewegung und endet mit dem Angebot eines Übergangskonzepts für einen "Sozialismus von unten ".

Der erste Teil ist eine holzschnittartige Darstellung der Umwälzungsprozesse der gegenwärtigen kapitalistischen Epoche. Die globalen Folgen des neoliberalen Siegeszuges seit den 1970er Jahren werden beschrieben: Die Internationalisierung der Finanzmärkte, die Öffnung der nationalen Märkte, die "Ausgrenzung " der unterentwickelt gehaltenen Staaten des Südens aus dem Markt, die Neu-Zusammensetzung der Klassenverhältnisse innerhalb der Industriestaaten und die Rolle der USA als letzter omnipräsenter allgemeiner Hüter des kapitalistischen Systems. Gut ist seine Darstellung des Neoliberalismus als Antwort des Kapitals auf die sinkenden Wachstumsraten der 1970er Jahre, die auf dem Wege der Internationalisierung und Vertiefung der Produktion den besitzenden Klassen neue Gewinne ermöglichen sollte. Wohltuend ist, dass - anders als bei Teilen von attac - die Finanzmärkte und die durch sie hervorgerufenen Krisen nicht als Quelle des Problems, sondern als Sympton des Umstrukturierungsprozesses verhandelt werden, denn diese sind vielmehr "das Ergebnis politischer und ideologischer Machtkämpfe ". Die Finanzkrisen in Ostasien, Lateinamerika, Russland, Argentinien, Brasilien und der Türkei werden nicht unterbewertet, sondern zurückgeführt auf die konkurrenzgetriebene Akkumulation des Kapitals. Armut, soziale Ungerechtigkeit, ökonomische Instabilität, Umweltzerstörung und Krieg sind nicht eine krisenhafte Ausnahmeerscheinung des Kapitalismus, sondern haben ihre Ursache in der kapitalistischen Verwertung, in der die Krise nicht die Ausnahme bildet, sondern ein Strukturmerkmal ist.

Daran anschließend beschreibt Callinicos die Globalisierungskritische Bewegung als eine "Vielfältigkeit des Antikapitalismus ", er gibt einen Überblick von der Bewegung, die aufgefächert ist in bürgerliche, reformerische, lokalistische, autonomistische, sozialistische aber auch reaktionäre Anteile. Die Beschreibung des reaktionären, also der rechten und rechtsextremistischen Bewegungsteile, fällt dabei nicht unter den Tisch; warnend hebt er hervor: "denn die Sehnsucht nach einer idealistischen Vergangenheit ist oft in Kämpfe um eine neue Gesellschaft eingeflossen ". Gepaart mit Ängsten vor dem Anderen oder Fremden, Verschwörungstheorien und eines kruden Antikapitalismus, stellt sie eine virulente Gefahr dar, die eine emanzipatorische Bewegung überrennen könnte. Doch beim sozialistischen Antikapitalismus, dem Callinicos selbstredend sympathisch gegenübersteht, muss er feststellen: "Die Idee, dass der Sozialismus das Gegenmodell zum Kapitalismus sei, hat bisher nur wenige Anhänger gefunden ". Da aber sein Ziel die Radikalisierung der Bewegung ist, fährt er fort und probiert er es mit einer Synthese: "Ein Rahmen muss entwickelt werden, in dem diese Differenzen offen gelegt und diskutiert werden können, ohne die Einheit der Bewegung zu gefährden. " Doch gerade hier bewegt sich Callinicos in einem Dilemma, da er einerseits eine Pluralität der Bewegung einfordert und andererseits Teile der Bewegung kritisiert, die "über kein ernst gemeintes analytisches Werkzeug verfügen ".

Im dritten Teil entfaltet er einen "Sozialismus von unten ", er verbindet Elemente von Gerechtigkeit und Demokratie mit einer nachhaltigen Wirtschaft "auf der Grundlage dezentralisierter, horizontaler Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten " bei einer kollektiven und demokratischen Planung der Produktion und Distribution gesellschaftlicher Güter, die an die Stelle eines konkurrenzgetriebene Kapitalismus treten soll. Dieser Teil des Buches erscheint ein bisschen traumwandlerisch, aber dennoch werden hier dem Slogan "Eine andere Welt ist möglich " konkrete Züge verliehen, die vielleicht zu belächeln sind, aber keineswegs lächerlich sind. Hervorzuheben ist sein "Übergangsprogramm ", in dem er Reformen vorschlägt, die in sich, einen systemtranszendieren Charakter besitzen und damit den Kapitalismus und seine Vorraussetzungen überwinden könnten. Dies steht in der Tradition Rosa Luxemburgs, die sich ebenso für einen revolutionären Reformismus einsetzte, um ein antikapitalistisches Selbstbewusstein entwickeln zu können, das über die Reformen hinaustreiben soll.

Dieses Buch ist eine anregende Lektüre. Dennoch bleiben bei der schematischen Darstellung der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus viele Gegenstände unterbelichtet. Insbesondere wäre eine genauere Analyse der neuen Formen der Arbeitsverhältnisse in den Staaten des Nordens wünschenswert gewesen - dann wäre Callinicos nicht so schnell dem Fehler verfallen, "die Arbeiterklasse " als Vorraussetzung für eine sozialistische Revolution zu unterstellen. Denn gerade diese allgemeine Subsumtion, nivelliert die trennenden Momente innerhalb der Klasse; und gerade diese trennenden Momente machten es in der Vergangenheit all zu schwierig, sich als Block gegen die Macht des Kapitals zu formieren. Die Korrespondenz von Geschlechterverhältnissen und Rassismus hätte stärker gewürdigt werden müssen. Er betrachtet etwas als Vorraussetzung, welches einer genaueren Analyse bedürfte nach den historischen Erfahrungen der Niederlage des vergangenen Jahrhunderts. Dennoch, eine Verbreitung dieses Buches ist wünschenswert und der Praxis zuträglich, da es sich verpflichtet sieht, "alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx).

Bodo Niendel
Die Rezension wurde leicht gekürzt zuerst in
Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Nr. 257 veröffentlicht.
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Lang, Miriam (Hg.):
Salsa Cubana – Tanz der Geschlechter. Emanzipation und Alltag auf Cuba

Konkret, Hamburg 2004, 143 Seiten, 12 €

Miriam Lang (Hg.): Salsa Cubana – Tanz der Geschlechter. Emanzipation und Alltag auf Cuba

Siegreich und begeistert begrüßt zogen die Guerilleros um Fidel Castro und Ché Guevara 1956 in Havanna ein. Seitdem hat sich vieles verändert, und mit den nach 1989 einsetzenden Verwerfungen standen auch die Errungenschaften Kubas zur Disposition. Der Hg. gebührt das Verdienst, erstmals einen deutschsprachigen Band zusammenzustellen, der sich dem Alltag des Landes aus der Perspektive der Geschlechterverhältnisse nähert. In ihrem eigenen Beitrag zeichnet sie die historischen Linien einer widersprüchlichen Entwicklung nach: Unter us-amerikanischem Einfluss war die Insel ein Amüsierviertel der High Society, während die Bevölkerung unter Armut und Hunger litt. Nach der Revolution begann ein Emanzipationsprozess, der auch die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung in Frage stellte. "Häusliche Reproduktionsarbeit wurde von den marxistisch inspirierten Revolutionären nicht mehr als ehrenhafte weibliche Tätigkeit, sondern als notwendiges Übel betrachtet, das durch die Einrichtungen von Kindertagesstätten, Wäschereien und Betriebskantinen so weit wie möglich vergesellschaftet werden sollte."

Zwar folgten die Alphabetisierungskampagne und der Aufbau der allgemeinen Gesundheitsfürsorge noch den alten Mustern der Rollenverteilung (Frauen trugen die Hauptlast), gerade dies unterstrich aber ihre Teilhabe an der Revolution. Erst Mitte der 1970er Jahre legte die Regierung ein – in erster Linie ökonomisch motiviertes – frauen- und familienpolitisches Programm auf; bis 1990 verdoppelte sich der Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevökerung auf 40%. Aber wie in vielen realsozialistischen Staaten brachte diese Einbindung eine Doppelbelastung für die Frauen, die weiterhin die reproduktiven Aufgaben zu bewältigen hatten.

1989 brach der RGW-Handel zusammen und die USA verstärkten die Wirtschaftsblo-ckade. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse. Die staatlich garantierten Löhne sicherten nurmehr das Existenzminimum. Ingrid Kummels erhielt den Eindruck, dass heute "mehr Personen als früher gezielt ein vornehmlich das wirtschaftliche Überleben sicherndes oder auch den Wohlstand versprechendes Heiratsarrangement anpeilen". Doch die einmal gewonnene Emanzipation geht dabei nicht verloren, z.B. entstehen Beziehungsgeflechte, die Ex-Geliebte, Ehemänner und Verehrer in die notwen-digen Kontakte zur Beschaffung von Bedarfsgütern integrieren. – Prostitution ist heute auf allgegenwärtig. Oft verschwimmt die Grenze zwischen Zuneigung und sexuellen Dienstleistungen: Angesichts der Armut auf der einen und des Reichtums auf der anderen Seite beinhaltet jeder Kontakt mit Personen aus dem Ausland die Möglichkeit, dem guten Leben näherzukommen. Sara Maria Faras beschreibt, dass staatliche und polizeiliche Maßnahmen die Prostitution nicht eindämmen konnten, die tief in den Familien verankert und als Einkommenssicherung akzeptiert ist.

In den letzten Jahren schraubte die kubanische Regierung die Diskriminierung von Schwulen zurück. Noch in den Sechzigern wurden Schwule, Transsexuelle und von der Norm abweichende Männer verfolgt und in Zwangsarbeitslager gesteckt – "das hat sich im kollektiven Gedächtnis der Kubaner jahrzehntelang gehalten" , wie Dalia Acosta Perez schildert. In den Achtzigern lockerte sich das Klima und in den Neunzigern sorgte der international beachtete Film Erdbeer und Schokolade für ein toleranteres Klima. Doch werden Homosexuelle von der Presse weitgehend ignoriert und eine im öffentlichen Auftrag durchgeführte Studie belegt, wie tief die Homophobie in der Bevölkerung noch verwurzelt ist: Fast ein Viertel der Befragten hielt Homosexualität für eine Krankheit; immerhin die Hälfte zeigte die Bereitschaft, Schwule normal zu behandeln; fast alle befragten Frauen hatten starke Vorurteile gegen Lesben. Doch insgesamt zeichnet sich bei der Emanzipation der Homosexuellen ein gewisser Wandel ab, der sogar an den sexuellen Aufbruch der Revolutionsjahre anschließen könnte.

All diesen Veränderungen stehen Auffassungen entgegen, wie sie im Beitrag der Psychologin Patricia Ares Muzio von der Universität Havanna vertreten werden. In Zeiten der Globalisierung sei "es wichtig, Strategien zu entwickeln, die die Familie stützen und stärken", und sie wettert gegen "Familien mit hohem Lebensstandard, die allerlei Konsumgüter besitzen, die sie womöglich aus moralisch oder rechtlich zweifelhaften Lebensmodellen beziehen". Solche Argumente für ein konservatives Familienmodell können nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz widriger ökonomischer Bedingungen neue Geschlechterarrangements entstehen, die das patriarchale, familienzentrierte Modell zwar nicht überwinden, es aber neu ordnen und den Einzelnen mehr Bewegungsräume ermöglichen. Ein bemerkenswertes Buch.

Bodo Niendel

Diese Rezension erschien ebenfalls in "Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften." Nr. 259
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Zur Positions- bestimmung und Kritik des postmoderenen Feminismus

Münster 2003, 130 S., 12,80 €

Jutta Sommerbauer: Differenzen zwischen Frauen

Die Frauenbewegung und der Feminismus haben sich grundlegend gewandelt. Jutta Sommerbauer bedauert dies und konstatiert "Utopie ist out", stattdessen sei das Konzept der Differenzen zwischen Frauen zum aktuellen "feministischen Allgemeinwissen" aufgestiegen und habe den kritischen Feminismus verdrängt. Sommerbauer ist bemüht, dem Feminismus eine neue Grundlage zu geben und "Gespaltenes wieder zusammenzufügen und in gesellschaftskritischer Absicht zu kontextualisieren".

Die Autorin zeichnet in ihrer knappen Analyse die Etappen des Aufstiegs des postmodernen Feminismus nach; darunter fasst sie insbesondere Judith Butler, Nancy Fraser und Seyla Benhabib. Doch schon ihre Zusammenstellung erweist sich als problematisch. So widersetzt sich Judith Butler ausdrücklich dieser Klassifizierung. Sommerbauer unterstellt den Theoretikerinnen, nicht ernsthaft an Gesellschaftskritik interessiert zu sein; sie würden sich lediglich um "das pluralistische Nebeneinander unterschiedlicher, begrenzter und kontextabhängiger "kleiner Erzählungen" die in keiner übergeordneten Einheit mehr aufgehen" bemühen.

Die Nachzeichnung des Aufstiegs der Debatte um Differenzen zwischen Frauen ist gehaltvoll. Sie begann im angloamerikanischen Raum und machte zunächst auf die Differenzen zwischen weißen und schwarzen Frauen aufmerksam. Insbesondere Angela Davis und bell hooks kritisierten den Feminismus als eine rein weiße Angelegenheit, die den Rassismus ausblende. Damit begann eine Kontroverse, die die Einheit der Kategorie Frau in Frage stellte und nicht nur auf den angloamerikanischen Sprachraum begrenzt blieb. Ärgerlich erscheint mir der künstliche Unterschied, den Sommerbauer konstruiert, wenn sie von dem berechtigten Anliegen schwarzer Feministinnen wie bell hooks spricht und andererseits dem Anliegen der lesbischen Feministin Judith Butler unterstellt, dem Feminismus zu schaden.

Anregend ist das Aufzeigen der Parallele zwischen dem Aufstieg der postmodernen Theorie und dem Untergang der sozialistischen Staaten und dem damit verbundenen Aufstieg eines ahistorischen Denkens - man denke hier an die These Fukuyamas vom "Ende der Geschichte". Sommerbauer setzt die Veränderung des Denkens über Geschlechterverhältnisse - leider spricht Sommerbauer nur von der Differenz Mann/Frau - in Bezug zur Umstrukturierungsprozess des Kapitalismus. Sie plädiert für die Neuaufnahme des Diskurses zwischen feministischer und marxistischer Theorie zum Verständnis der globalen Veränderungsprozesses. Dieser Teil des Buches verdient eine Würdigung, denn hier wird der Siegeszug des transnationalen Kapitalismus in Verbindung gesetzt zur Krise des gesellschaftskritrischen Denkens.

Dennoch schüttet Sommerbauer auch hier das Kind mit dem Bade aus, wenn sie Judith Butler eine "Kompatibiltät zum Gesellschaftsprozess" unterstellt. So richtig auch Sommerbauers Anmerkungen sind - wie diese: dass einem sozialem Verhältnis nicht durch (sprachlich) diskursives Verschieben beizukommen ist - so unterstellt sie implizit, dass den Differenzen zwischen Frauen durch ein neu zu konstituierendes radikales feministisches "Wir" beizukommen wäre. Ihre mahnenden Hinweise auf eine "umfassende Herrschaftskritik" sind lobenswert, doch müsste sie dann den Hinweis auf Differenz mehr in den Kontext ihres radikal-feministischen Ansatzes miteinbeziehen. Denn sie attestiert dem sog. "Differenzansatz" zurecht, dass er "eine besondere Sensibilität für die Ausgeschlossenen mit sich gebracht" habe. Ist nicht die Herstellung einer solchen Art von Sensibilität auch Ziel linker Politik? An dieser Stelle hätte Sommerbauer Brücken bauen können und interessante Ansätze bspw. der Queer-Theory darstellen können, um einen fruchtbaren Bogen von einer "umfassenden Herrschaftskritik" zu neueren identitätskritischen Bewegungen spannen zu können, doch gerade dies vermeidet sie.

Bodo Niendel
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Gehen & Sehen

Wien unterm Regenbogen

7 Stadtspaziergänge für Schwule, Lesben und andere Neugierige

Falters CITYwalks, Falter Verlag Wien 2004, 9,90 €
Christopher Wurmdobler: Queer Vienna

Irgendwann in diesem Sommer schickte mir der Wiener Falter Verlag seinen soeben erschienenen Stadtführer "Queer Vienna" mit der Bitte um Rezension auf etuxx.com. Vorausgegangen war ein Anruf der etuxx-Chefredaktion mit der Anfrage, ob ich denn nicht vielleicht Bock hätte, aufgrund enger, verwandtschaftlicher und bekanntermaßen "queerer" Bindungen an Österreichs Hauptstadt einen Stadtführer zu besprechen. Obwohl mir die Relevanz eines lesbischwulen Stadtführers über Wien für die etuxx-Leserschaft nicht unmittelbar einleuchtet, soll das nun doch geschehen; denn schließlich zeigt das Kulturhaus-Rezensionsarchiv, dass von RAF-Monographien bis zu Fatburner-Diätbüchern eigentlich alles zur Besprechung freigegeben ist. Und darüber hinaus sind's dann nicht nur meine zeitgenössischen verwandtschaftlichen Beziehungen nach Österreich, sondern väterlicherseits gehen meine Wurzeln über Böhmen und Mähren in die Steiermark und mütterlicherseits in den Tiefen des achtzehnten Jahrhundert in das Salzburger Land, währenddessen sich weitere Familienlinien genealogisch selbst in den abgelegensten Gegenden der ehemaligen Donaumonarchie wiederfinden... aber das tut jetzt hier dann doch nichts zur Sache.

Der Wiener "Falter" (für Nichteingeweihte: sozusagen der "TIP" Wiens), der neben seinem zweiwöchigen Programmmagazin die Reihe CITYwalks herausgibt, in der bereits Stadtrundgänge wie "Rotes Wien" zur Arbeitersiedlungsarchitektur und "Denkwürdiges Wien" zur NS-Zeit erschienen sind, hat seinen neuen CITYwalk "Wien unterm Regenbogen" gewidmet. Wer hier aber einen Gay-Spartacus erwartet, sollte dann doch zum Original greifen, obwohl die sieben Routen - z. b. Route 4, die "schwule Beisltour" (österr. Beisl = Kneipe), Route 5, die "Lokaltour für Lesben" und Route 7, die "schwule Nachtwanderung" kaum etwas auslassen, was das homosexuelle Herz begehrt. Nebenbei erfährt man Wissenswertes über den feministischen Frauenbuchladen "Frauenzimmer" oder die Eskapaden des schwulen k.u.k. Erzherzogs Ludwig "Luziwuzi" Viktor. Das Brauchbare an Queer Vienna jedenfalls ist, dass man das locker und ironisch geschriebene Kompendium auch gut als allgemeinen Stadtführer für einen Erstbesuch in Wien nützen kann, denn vom Stephansdom bis zur Wiener Secession, von Naschmarkt bis zum Museumsquartier wird nichts ausgelassen. Obwohl (s.o.) ich schon seit geraumer Zeit und in regelmäßigen Abständen Wien aufsuche, war ich beispielsweise noch nie im Kaiserbründl, dem angeblich schönsten schwulen Badehaus der Welt, und das werde ich nach meiner Lektüre von "Queer Vienna" mit Sicherheit nachholen.

Eine Bemerkung sei mir allerdings noch erlaubt: Das queere Wien war bis Mitte der Neunziger ungefähr so aufregend wie etwa das queere Stuttgart oder das queere Wuppertal, und trotz erheblicher Fortschritte haftet Wien mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern noch immer etwas Provinziell-Verklemmtes an. Der Autor von "Queer Vienna", Christopher Wurmdobler, erklärt das mit der Blockadehaltung der konservativen Regierung Österreichs. Wien allerdings ist schon immer Hochburg der Arbeitersozialdemokratie gewesen, vom Roten Wien der Zwanziger Jahre bis zur Dauerherrschaft der SPÖ Bruno Kreiskys. Mit einem Verweis auf ÖVP/FPÖ/Katholische Kirche ist daher meines Erachtens nichts erklärt. Deshalb, geneigte Leserin und geneigter Leser, sollte man vor einem geplanten Wienbesuch nicht nur "Queer Vienna" zu Rate ziehen, sondern auch Thomas Bernhard und Elfriede Jellinek lesen; letztere kommt schließlich auch aus der Steiermark...

Bastian Krondorfer

Brenda: wen oder was verstehst du denn unter der "Chef"redaktion? Versteh ich dich richtig: Das Buch ist super, aber nach Wien fahren wäre dann doch nicht so die gute Idee? Lieber gleich nach Budapest?  
Sascha B.: Das mit der "Chef"redaktion würde ich nicht zu hoch hängen: wahrscheinlich fand Basti bloss, dass sich das bedeutender anhört. Aus der Rezension geht allerdings tatsächlich nicht hervor, was am queeren Wien denn heute evtl. "bedeutender" ist als am queeren Stuttgart. Und Thomas Bernhard hat Wien ja auch eher gemieden...  
Basti: Also Leute, ich habe hier ne Besprechung von einem Reiseführer gemacht; sozusagen ne Fingerübung und mitnichten ein Essay zu Österreich im Besonderen oder zur Weltlage im Algemeinen. Also mal echt, ey. Und das Buch ist halt symphatisch geschrieben, macht neugierig auf die Stadt und was ich damit rüberbringen wollte, ist, dass sich eine Reise nach Wien durchaus lohnt. Allerdings weniger unter dem homotouristischen Aspekt sondern weil's ne schöne Stadt ist. Man kann zum Beispiel für ein paar Euro mit easyjet nach Bratislava fliegen (auch ne Reise wert), das ist eine halbe Zugstunde weg von Wien.  
Wienliebhaberin: Uff, ooch noch Schleichwerbung für'n Billichflieja. Wie heisst denn Wien bei easyjet? Wienchen oder Wienlein?  
Weinliebhaberin: Achso, nee, pardon: es geht ja um Bratislavchen bzw. Bratislavalein. Na, Hauptsache sie nennen es nicht Pressbürgelchen.  
antos: Wurmdoblers Buch ist wirklich empfehlenswert. Bleibt die Frage, wie man von ´Wien, Hochburg der Arbeitersozialdemokratie´ auf Thomas Bernhard [ausgerechnet!] und Elfriede Jelinek [schon eher vielleicht] kommt. Bastian? Mein Tipp: Vorm Wienbesuch auch mal Jelineks "Klavierspielerin" lesen.  
Marcel Reich-Ranicki: War Thomas Bernhard eigentlich hetero? Ich habe im Zusammenhang mit seiner Person nie etwas von Frauen gelesen.  
La Dottoressa:: Auf Anfrage der etuxx-Red hier der Versuch einer kurzen Expertise: Herr Bernhard hatte aller Wahrscheinlichkeit nach in den fünfziger Jahren Sex mit seinem damaligen Mentor, dem Komponisten Gerhard Lampersberg, mit dem er dann in dem Roman Holzfällen abrechnete. In Holzfällen berichtet der Erzähler aber auch von einer sexuellen Beziehung zu einer jungen Schriftstellerin im Wien der fünfziger Jahre. Diese Szene wird in der Regel biographisch gedeutet.  
La Dottoressa: Ansonsten vermuten viele Menschen vieles. Tatsache ist, dass Bernhard mehr als 30 Jahre lang eine platonische Beziehung zu einer älteren Dame namens Hede Stavianicek unterhielt, der er in seinen Büchern Wittgensteins Neffe und Alte Meister einige Zeilen widmet. Als Fetische des Herrn Bernhard werden gehandelt: Schuhe, Strümpfe, Füße, sowie Messer und Klingen. Bemerkt wurden von fachgermanistischer Seite auffallende skatologische Präferenzen in Bernhards Rhetorische und Metaphorik (u. a. vom Wiener Philosophen Alfred Pfabigan) und diese wurden dann auch durchaus mit einer vermuteten Homosexualität des Herrn Bernhard in Zusammenhang gebracht.  
La Dottoressa: In seinem letztveröffentlichten Roman Auslöschung greift Bernhard explizit auf das Motiv des erzieherischen Eros im Sinne Platons zurück (eine umfassende Beziehung zwischen Mentor und Eleven, die durchaus sexuell konnotiert ist, dies aber durch den edukativen Kontext zu veredeln sucht).  
La Dottoressa: Soviel aus der germanistischen Klatsch- und Tratsch-Abteilung. Solche Fragen sind ja auch ungemein wichtig, um sich mit seiner homosexuellen Identität nicht so allen zu fühlen in der kalten Welt da draußen. Fast ebenso spannend ist die in der Germanistik nun schon seit 20 Jahren heiß diskutierte Frage: Haben wir das Schmerzenswerk von Ingeborg Bachmann nur dem Umstand zu verdanken, weil Paul Celan sie Ende der vierziger Jahre ein paarmal ordentlich durchgevögelt hat? Willkommen in Österreich!  
Kulturhausleitung: wir danken La Dottoressa für diesen sachkompetenten hinweis. ob Sie uns an dieser stelle auch gleich noch die leichte bis mittelschwere morbidität der jelinek literturkritisch beleuchten könnten? und warum sie damit so große erfolge zeitigt? das sind zwei fragen zu unterschiedlichen genres. es würde auch schon reichen, wenn Sie zu einer die einleuchtende antwort hätten. BBB  
antos: Hammer, La Dottoressa, ganz große Germanistik! Bliebe höchstens, im Hinblick auf das ja dann doch schon seit dem Romanerstling "Frost" perpetuierte Motiv des ebenso erzieherischen wie bernhardesk gefährlichen Eros´ im Sinne Platons, der innigen Bernhardschen Beziehung zum Großpapa zu gedenken: J. Freumbichler - einem Urbild vielleicht all der vor sich hin grantelnden und späterhin stammtischhaft schwafelnden Geistesmenschen. Gepoppt haben die aber nicht, so weit ich weiß. Also, was ist mit Jelinek? Bitte leuchten!  
antos: Und zwar möglichst schnell und hell, bitte. Zwar hat sich gerade Jelinek immer wieder über diesen Biografismus lustig gemacht, andrerseits aber auch in allen früheren Interviews - schlimm rund um die "Klavierspielerin", verheerend bei "Lust" - tüchtig  mitgespielt.
La Dottoressa: Die Expertin schweigt, weil sie bei Jelinek keine Expertin ist... Ansonsten mag sie Jelinek als Autorin nicht so sehr, die Person Jelinek sogar gar nicht. Andererseits: Was die gute Elfriede anlässlich der Nobelpreisverleihung (oder -nachschmeissung?) äußerte, war nicht komplett blöd. Z.B., dass man sich als Frau über diese Art der Ehrung niemals wird freuen können. (Und als Österreicherin sowieso nicht!)  
antos: Eine andere Expertin zu Jelinek: "Zu reden wäre über zu vieles: Über das Projekt der "Entmythologisierung" und eine Programmatik der "Seichtheit", über Wiederholung und Intertextualität als Strukturprinzip, über Lust an der Übertreibung jenseits der Schmerzgrenze, über Trivialität und Alltagsmythen, Ironie, Parodie und die Lust am Kalauer..."  
antos: "...über Autorschaft, die mit der Gestik des Verschwindens spielt, über Sprachbeherrschung und Sprachüberflutung, vor allem aber über die Entwicklung einer Schriftstellerin, die sich eben nicht nur mit der Welt, sondern zuallererst mit anderen Texten aus vielfältigen Bereichen und mit dem Schreiben auseinander setzt und dabei stets die formalen Möglichkeiten von Genres und Gattungen ausreizt und sprengt."  Lob mit Fußtritten
Sascha B.: Liebe Dottoressa, das war durchaus keine Nachschmeissung (des Nobelpreises - der Büchnerpreis ist in dieser Hinsicht übrigens verdächtiger), sondern mindestens eine kleine Überraschung. Auch wenn deutschsprachige Literatur "mal wieder dran gewesen sein sollte": Frau Jelinek, finde ich, hat den Literaturnobelpreis durchaus NICHT verdient. Allerdings scheint diese Auszeichnung grundsätzlich nur an Lebende vergeben zu werden. Und Herr Kafka und Herr Musil und Herr Walser (Robert!, nicht der antisemitische Bodenseespiesser Martin natürlich!) sind schon lange tot. Und unser lieber Thommy B. ja leider auch.  
antos: Lieber Sascha, lässt du dich evtl. dazu hinreissen, deine Meinung, Jelinek habe den Nobelpreis nicht verdient zu begründen? Oder muss der merkwürdig autoritätsheischende Hinweis [samt Verweis auf den alles, aber garantiert NICHT antisemitischen Martin Walser] auf die Namen kanonisierter Toter reichen? - Ohne passende Füllung, argumentative Unterfütterung wirken solche Meinungen - wie Kleidungsstücke - leicht "schlecht angemaßt" [Jelinek, Totenauberg].  
Sascha B.: Was M. Walser angeht, so halte ich mich schlicht an das, was er veröffentlicht hat, und das reicht für eine solche Beurteilung; die Verklemmtheit seines Antisemitismus korrespondiert mit der des notgeilen, reaktionären Greises. - Die Kriterien für eine Nobelpreisvergabe sind mir einigermassen undurchsichtig (so haben beispielsweise Th. Mommsen und W. Churchill diesen Preis für umfangreiche historische Werke erhalten). Und: viele bedeutende AutorInnen haben, wie gesagt, diesen Preis nicht bekommen - warum also die weniger bedeutende Frau Jellinek? Rein literarische Kriterien gelten offenbar nicht.  
antos: Wer hätte denn behauptet, bei der Nobelpreisvergabe gälten "rein literarische Kriterien" - überhaupt: was wären das wohl für welche? Wer könnte bloß für deren ´Reinheit´ bürgen, zumal bei einer Autorin, die gerade auf diese ´Reinheit´ ausgiebig und literarisch wertvoll scheißt? - Kein Wunder, dass die Diskussion hier schnell ihre Sackgasse erreicht. Klar könnte man, wenigstens grundlegende literaturwissenschaftliche Kenntnisse vorausgesetzt, zahlreiche literarische Gütekriterien von Jelineks Literatur [Klasse A!] auflisten - aber, steht das Urteil erst mal fest und wird mit nebligen Verweisen auf das ´Bedeutende´ verteidigt, nervt das ja nur, stimmts?  
antos: Anders gesagt: diese grundlegende Spießigkeit, die ohne Sachargumente mit dem Zaunpfahl der ´reinen Kriterien´ und der ´bedeutenden Autoren´ [Iddi-i ist hier wirklich überflüssig, Autoren sind immer Männer und Frauen, es sei denn wir brauchen diesen speziellen Kuscheleffekt] winkt, macht mich völlig platt. Hier in diesem ´queeren´ Angebot hätte ich Diskussion erwartet, nicht solche reaktionären Phrasen. - Vielleicht schieß ich aber auch übers Ziel hinaus, dann: sorry.  
Sascha B.: Also, antos, Du darfst mich duchaus persönlich kritisieren, und nicht immer von "hier" sprechen, denn ich bin - wie Du - nur einer der Diskutanten. etuxx ist keine Partei und hat selten eine einhellige Meinung, sicher auch nicht zu Frau Jelineks Prosa. Literaturwissenschaftliche Kenntnisse solltest Du allerdings nicht allgemein voraussetzen; etuxx ist kein geisteswissenschaftliches Studentenblatt, auch wenn das von einigen queeren Punks immer wieder unterstellt wird... ;-)  
Sascha B.: Leider trifft, was Du mir vorwirfst, auf Dich selbst zu: ich schreibe nebulös von "bedeutenden AutorInnen", Du beharrst auf "A-Klasse". Es ist nicht so einfach zu entscheiden, ob Frau Jelinek diesen Preis verdient hat; wir sollten schon klar machen, im Vergleich womit: mit dem, was dieser Preis sein sollte, mit der bisherigen Vergabepraxis oder mit anderen AutorInnen, die diesen Preis bisher nicht erhalten haben.  
La Dottoressa: Und eine andere wichtige Frage: Hätte Ingeborg Bachmann den Nobelpreis verdient gehabt? Verdient überhaupt irgendjemand den Nobelpreis? Oder vielmehr: Verdient der Nobelpreis jene Autoren, denen er verliehen wurde? Und sollten sich nicht jene glücklich schätzen, die ihn nicht bekamen, dass sie ihn nicht bekamen? Außer, dass sie dadurch natürlich weniger verdienten... (Sorry für diesen schlechten Kalauer).  
ebaybuchkrämer(34565positiv): Oh. Un was ist mit denen (pardon, denInnen), die nie die Gelegenheit bekamen, nicht zu ihrer eigenen Nobelpreisfeier zu erscheinen. Was für eine Warmduscherveranstaltung ist diesbezüglich doch das Klagenfurter Wettvorlesen. Wer gewinnt, kann sich nicht durch desinteressierts Fernbleiben metaprofilieren. Der Lieraturstandort Deutschland braucht mehr Fernbleibepreise. Vielleicht sollte etuxx einen ausloben.  
Robert Kurz´ Blick aufs Feuilleton: Na hallo, Krämer, selbstverständlich steht jeder der Klagenfurter Kaltduscher turmhoch über der Jelinek, allein schon in allg.-menschl. Hinsicht aufgrund wertvollster körperlicher Anwesenheit im Falle einer Preisverleihung. Dagegen wird der Video-Auftritt, mit dem Jelinek sich in Stockholm metaprofilieren wird, natürlich so unpersönlich sein wie das viele Geld, das sie dann erhält. - Desinteressiertes Fernbleiben? Wo lebst Du denn?  
antos: Öhm. Dass ich zu doof für Links bin, geht nicht in die Wertung mit ein, verstanden!  Hier guckt Robert Kurz wirklich
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Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus.


Über die Siebziger, die Bewegung 2. Juni und die RAF

Edition Nautilus, Hamburg 2004, á 9,80 €
Thorwald Proll / Daniel Dubbe:
Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus.

Gabriele Rollnik / Daniel Dubbe:
Keine Angst vor niemand. Über die Siebziger, die Bewegung 2. Juni und die RAF.

Die Geschichte der bewaffneten Linken in Deutschland ist abgeschlossen. Seitdem lässt sich über dieses Thema bedeutend leichter publizieren. Zahlreiche Veröffentlichungen kamen in den letzten Jahren auf den Markt, kritische Kinofilme wie die "Die innere Sicherheit" hatten beachtlichen Erfolg. Die beiden dünnen Bände, die jetzt im Nautilus-Verlag veröffentlicht wurden, geben Interviews wieder, die der Journalist Daniel Dubbe mit Thorwald Proll und Gabriele Rollnik führte.

Thorwald Proll beteiligte sich zusammen mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Horst Söhnlein am 2. April 1968 an der nächtlichen Brandstiftung zweier Frankfurter Kaufhäuser. Diese Aktion stand für den Übergang eines Teils der Studentenbewegung zur militanten Konfrontation. Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs durch den Polizeibeamten Kurras auf der Studentendemonstration gegen den Schah von Persien kippte die Stimmung innerhalb der Studentenbewegung. Aus der Ohnmacht angesichts des Vietnamkrieg entwickelte sich eine "Wir wollen alles"-Emphase. Die Kommune 1 sorgte West-Berlin für Unruhe. Thorwald Proll, Gudrun Ensslin und Andreas Baader lernten sich hier kennen. Baader "war ein hübscher Typ. Er hatte einen gewissen Charme" und überzeugte andere mitzumachen. Proll beschreibt, wie lapidar sich die Kaufhausbrandaktion - bei der niemand verletzt wurde - entwickelte und wie selbstverständlich der Übergang zu "Macht die Macht kaputt" verlief.

Das Umfeld des Aufbruchs, die Respektlosigkeit gegenüber dem Alten und eine romantisierende Stimmung machte sie blind vor dem was passieren konnte. Proll: "Die Gesetze habe ich nicht akzeptiert. Die Konsequenzen kannte ich nicht." Cool wie Marlon Brando wollten sie sein, und am Ende standen sie da wie Netschajeff. Schon am nächsten Morgen wurden sie verhaftet. Im darauffolgenden Prozess wurden sie von Horst Mahler und Otto Schily verteidigt. Sie akzeptierten nichts, denn "gegenüber einer Justiz die das Instrument der herrschenden Klasse ist, verteidigen wir uns nicht". Sie wurden zu drei Jahren Haft verurteilt; während der laufenden Revision erhielten sie Haftverschonung und nutzten die Gelegenheit zur Flucht nach Paris.

Sie kamen in der Wohnung von Regis Debray unter, der in Bolivien unterwegs war, um Che Guevara zu interviewen. Die Unterstützung war vielfältig: "Es kam ja nicht nur jemand und brachte das Geld und das Auto, sondern es kam ein ganzer Pulk von Leuten". Proll beschreibt die immer schneller werdenden Ereignisse wie einen turbulenten Film. In Paris trennten sich die Wege. Proll blieb in Paris. Später wurden alle vier dennoch verhaftet. Andreas Baader wurde dann von Ulrike Meinhoff aus der Haft befreit; ie Rote Armee Fraktion wurde gegründet. Nach ihrer erneuten Verhaftung wurden sie 1977 (bzw. 1975) tot in ihren Zellen aufgefunden.

Gabriele Rollniks Geschichte ist eine andere. Sie kam nach Berlin, als die Auseinandersetzungen bereits ihren ersten Höhepunkt erreicht hatten. Das Studium wurde geschmissen, und sie begann mit Betriebsarbeit, musste aber resigniert feststellen, dass die Agitation der Arbeiterklasse ein sehr langwieriger Prozess ist. Ende `73 bekam sie Kontakt zur Bewegung 2. Juni und schloss sich ihr an, um "radikal und konsequent für die Revolution zu kämpfen". Sie entschied sich gegen die RAF, denn diese empfand sie als arrogant und überheblich. Die Bewegung 2. Juni verstand sich als eine bewaffnete Gruppe, die ihre Aktionen in der Bevölkerung verankern wollte. Im Rahmen von "Enteignungsaktionen" wurden Banken überfallen und Schokoküsse an die entsetzten Kunden verteilt. Das erbeutete Geld wurde in Robin Hood-Manier an legale Gruppen verteilt.

Der Bewegung 2. Juni gelang es als erste und einzige Gruppe, politische Gefangene freizupressen. Während des Berlin-Wahlkampfs 1975 entführten sie den CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz und steckten ihn ins "Volksgefängnis". Die in Berlin regierende SPD konnte es sich politisch nicht leisten, Lorenz über die Klinge springen zu lassen. Zur Entführung wurden Broschüren gedruckt und parallel 30.000 Flugblätter verteilt. Die Bewegung 2. Juni konnte fünf politische Gefangene gegen Lorenz austauschen und in den Südjemen ausfliegen lassen.
Die Ereignisse überstürzten sich auch hier: 1975 wurde Rollnik verhaftet, doch bereits nach 10 Monaten gelang ihr zusammen mit Monika Berberich und Inge Viett die Flucht aus dem Knast. Doch die Bewegung 2. Juni begannt sich aufzureiben; immer mehr in eine Kampfkonstellation hineingetrieben nahm sie an militärischen Ausbildungslagern im Nahen Osten teil, übte den Sprengstoffeinsatz und führte Diskussionen mit der RAF. Doch diese war, anders als die Bewegung 2. Juni, nicht an Sympathie aus der Bevölkerung interessiert.

Selbstkritisch merkt Rollnik an: "Und wenn das damals anders diskutiert worden wäre, (...) dann wäre vielleicht diese ganze Eskalation, (...) das politische Aktionen nur noch darin bestanden, Funktionsträger des Systems zu töten, vielleicht verhindert worden". Die RAF wollte eine Front aufbauen, sie verstand sich als Teil des antiimperialistischen Kampfs der Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt" und sie suchte die Konfrontation, die dann im Herbst 1977 kulminierte: Schleyer-Entführung, Flugzeugentführung, die Toten von Stammheim. Rollnik wurde, zusammen mit anderen Mitgliedern der Bewegung 2. Juni, 1977 in Bulgarien verhaftet. Im Knast wurden die ungleichen Auseinandersetzungen fortgeführt. Hochsicherheitstrakte und Isolationshaftbedingungen auf der einen Seite, Hungerstreikkampagnen auf der anderen. Nach 15 Jahren wurde Rollnik 1992 aus der Haft entlassen. Rückblickend betrachtet sagt sie: "Als ich angefangen habe zu kämpfen, war mir schon klar: entweder ich werde sterben oder ich werde ganz lange in den Knast kommen.".

Bereut hat Rollnik nichts. Anders als Thorwald Proll, der die Entwicklung eher als eine zufällige beschreibt - "We were dropouts" - ging Gabrielle Rollnik bewusst in den bewaffneten Kampf. Aber auch sie wurde in einen Strudel von Ereignissen hineingerissen, bei dem schließlich die äußeren Bedingungen der Auseinandersetzung das politische Handeln der bewaffneten Gruppen prägten. Thorwald Prolls Geschichte ist eine eindrucksvolle und rasante Berichterstattung in einer fast lapidaren Erzählweise, sie vermittelt einen Eindruck von der enormen Geschwindigkeit der Radikalisierung der Studentenbewegung, die nach Befreiung strebte. Für Gabrielle Rollnik war die Befreiung dann nur noch denkbar als bewaffneter Kampf. Beide Interviewbändchen sind eindrucksvolle Berichte vom Beginn und dem Untergang der bewaffneten Linken in der Bundesrepublik - rasant und spannend erzählt.

Franz Bieberkopf

Fipsiboy: Nach dieser Rezension stellt sich das gute Gefühl ein, die beiden besprochenen Interviewbände gar nicht mehr lesen zu müssen. Das spricht möglicherweise für den Rezensenten - und gegen das Rezensierte. Schön zusammengefasst - und das reicht auch.  
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Aldidente. Fatburner. Die besten Rezepte. Anne Enderlein und Cornelia Kister. 120 S. gb. 7,77 €
Anne Enderlein und Cornelia Kister:
Aldidente. Fatburner. Die besten Rezepte.

Kochbücher sind eine Sache für sich: Entweder die Zubereitung erfordert zuviel Zeit oder die Zutaten sind schwer zu bekommen bzw. zu teuer. Ein Kochbuch, das ausschließlich mit Rezepten bestückt ist, die auf Produkte eines bestimmten Discounters zurückgreifen, ist ein Novum. Der Eichborn-Verlag stieß in diese Nische und legt nun mit dem Aldidente Fatburner-Buch schon eine zweite Ausgabe nach.

Um es kurz zu machen: Die Gerichte lassen sich schnell zubereiten, passen damit in den Trend der Zeit und kommen dem heutigen Lebenswandel entgegen. Den Untertitel und die Einleitung sollte man jedoch schnell wieder vergessen. Sätze, wie "der sichere Weg zu dauerhaft schlanker Linie" sind gelinde gesagt eine Zumutung. Denn wer Essstörungen aufweist wird sie sicherlich als Letztes mit diesem Kochbuch lösen können.

Aber nun zu den Gerichten: Geboten werden nicht nur Rezepte für die Hauptmahlzeiten, sondern auch Dipps und Zwischenmahlzeiten mit kurzen Zubereitungszeiten. Die Hauptgerichte zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Wesentlichen auf Fleisch und Fisch verzichten, und wenn, dann müssen nur geringe Mengen verwendet werden.

Einige Gerichte wie das "Paprikagulasch mit Möhren und grünen Bohnen", der "warme Rigatoni-Gemüse-Salat" oder die "herzhafte Lauchsuppe" haben es mir besonders angetan. Auch die etuxx-Redaktion wurde damit schon beglückt. Sogar der Großmeister der etuxx-Küche, Robert M., fand schon Gefallen an den Discounter-Gerichten.

Ein Tipp: Alle Zutaten lassen sich in jedem anderen Discounter ebenso zusammenkaufen. Und das Gemüse sollte frisch vom Händler um die Ecke kommen. Dann noch die Einleitung heraustrennen und das Prädikat ist: Hoher Gebrauchswert.

Franz Bieberkopf
Dilemma: Fisch ist bekanntlich ungenießbar und Salz schädigt langfristig die Nieren. Gibt es Nahrungsmittel, die Jod enthalten und weder salzig noch fischig sind?  
kein Dilemma: ja es gibt unfischiges und unsalziges - Du musst nur Tonnen davon essen, frag' einfach  Dr. Tilo Brunnée
Paul B.: Genau. Alles gar kein Problem. Iss einfach jeden Tag 6kg Kartoffeln oder 1 kg gegarter Pilze oder 50 kg frischen Kopfsalat.  
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MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2004, 207 Seiten, 12,- €
Elmar Kraushaar: Der homosexuelle Mann

Benannt nach der gleichnamigen taz-Kolumne die regelmäßrig auf der Wahrheitsseite der taz erscheint, besteht das Buch aus einer Auswahl an Kolumnen die Elmar Kraushaar zwischen 1985 und 2003 in der "Siegessäule" in "magnus" und später der "taz" veröffentlichte. Die Lektüre wird zur Zeitreise.

Die 1980er: Verwirrendes und Verstörendes fördert Kraushaar hervor mit seinem Blick in den Blätterwald der Homo- und Heterowelt. So beispielsweise der Verweis auf den "Spiegel", der während des Ausbruchs der AIDS-Epidemie schrieb: "... diese Zeitschrift hat die Funktion (...) einer sogenannten moralischen Mehrheit (...) in der Bundesrepublik übernommen" um als nächstes über die verruchten und obzönen Sexualpraktiken der Schwulen zu berichten. Währenddessen hatten auch die Schwulenzeitungen ihr ganz besonderes Black-Out, der Don delirierte "AIDS hat es schon in früheren Jahrhunderten gegeben, nur hat`s keiner erkannt. Bereits im 16. Jahrhundert ..." Man erfährt einiges, was sich am Rande ereignete aus den Jahren, in denen so viele starben. Kraushaars Kolumnen aus dieser Zeit vermitteln einen Eindruck über die ambivalente Emanzipation der Schwulen während der AIDS-Krise.

Die 1990er: Als Rosa von Praunheim bei RTLplus auf dem heißen Stuhl saß, waren die Gauweilerschen Forderungen nach Konzentrationslagern für HIV-Positive zurückgeschlagen. Die Schwulen hatten sich den repressiven Forderungen erfolgreich zur Wehr gesetzt, und nun wollte es sich Rosa nicht nehmen lassen, einmal allen sagen, wer noch so alles zum anderen Ufer gehört, "zeitgleich zu den Schlagzeilen erschien die Neuauflage seiner Memoiren, dazu seine Filme im Video-Six-Pack." Praunheims Outing ging voll in die Hose. Politisch entwertet stürzte sich nur die Boulevard-Presse auf seine Promotion-Aktion. Doch trotz der "Prauheimschen Ergüsse" kamen die Schwulen Anfang der 90er Jahre in der Republik an, die Medien lieferten Aufklärungstraktate. Mit der Folge: "Das ist sowas von gut gemeint und geht immer voll daneben." Aber trotzdem, es bewegte sich etwas am Bild des homosexuellen Mannes. Der Schwulenverband Deutschland, SVD(heute: LSVD), trommelte 1992 zur Aktion Standesamt. 200 schwule und lesbische Paare ließen sich öffentlich (symbolisch) trauen. Mit diesem "reaktionären Trauungsfirlefanz" wurde der Grundstein zur berüchtigten Homoehe gelegt. Nicht ohne eine gewisse Frustration zeichnen sich in den Kolumnen der Untergang der Schwulenbewegung und die Wandlungen und Anwandlungen der Schwulen nach. "Mit tiefer Verbeugung haben sie ein paar Brosamen entgegen genommen, dabei jeden klaren Menschenverstand ausgeschaltet und sich in Demut ergeben."

Einen ganz speziellen Vorzeige-Schwulen mag Kraushaar besonders: Volker Beck. "Unser Mann" im Bundestag, der selbsternannte schwule Bürgerrechtler und "Sonntagsredner". Er repräsentiert "die wohlgelittene angepasste Variante des neuzeitlichen homosexuellen Mannes". Als Vorreiter für die Homoehe und SVD-Chef organisiert er für "uns" und "unsere" Belange und ist dabei der "Prototyp des schwulen Opportunisten".

Die Akzeptanz der Schwulen ist in den 90ern überaus ambivalent verlaufen, einerseits goutiert für besondere Partys, Shows und Mode andererseits nur auf die Sexualität reduziert, die immer noch als Belästigung empfunden wird, wie Kraushaar meint: "Homosexuell sein heißt: Faß mich nicht an! Nimm die Pfoten von meinen Kindern! Mach mir den Clown! Gib mir `ne Party! Das sind die 90er kurz vor Schluß." Und das öffentliche Bekenntnis zur eigenen Homsexualität gilt immer noch als unverschämte Äußerung. Aus dem Privatleben wird ein Sexualleben phantasiert. Wowereits Wahlkampfslogan: "Ich bin schwul und das ist auch gut so!" wurde von Rudolf Augstein kommentiert mit "Wir können auf Informationen zu Klaus Wowereits Sexualleben verzichten." Denn anders als bei den braven Familienvätern in der Politik muss sich der homsexuelle Mann auf einiges gefasst machen. "Wenn der von seinem Privatleben spricht, starren alle nur noch auf das vermeintlich Sexuelle der Information."

Nach dem Aufbruch der 70er Jahre und dem erfolgreichen Zurückschlagen der homophoben Angriffe während der AIDS-Krise zieht Kraushaar ein bitteres Resümee: "Der homosexuelle Mann wird nicht entlassen aus dem Vorurteil. Die Klischees werden generalüberholt und auf den aktuellen Stand gebracht. Ihre Diense werden noch gebraucht."

Elmar Kraushaar gehört zur leider seltenen Spezies des linken Schwulen, einem kritisch-ironischen Zeitbetrachter, der die Verhältnisse um und in der schwulen Lebenswelt poträtiert. Sein Glossensampler schärft den Blick auf schwule Befindlichkeiten der letzten 20 Jahre. Prädikat: Lesenswert.

Bodo Niendel
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Ullstein, Berlin, 2003, 397 Seiten, 24,- €
George L. Mosse: Aus großem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers.

"Doppeltes Außenseitertum" nennt es George L. Mosse, im 20. Jahrhundert zugleich jüdisch und schwul zu sein. Als "Inhaber zweier schmutziger Geheimnisse" hat er sich Zeit seines Lebens gefühlt, und dabei im Grunde noch viele weitere Außenseiterrollen eingenommen. Als isoliert erzogener Sohn einer der reichsten Familien Berlins zum Beispiel, oder als deutscher Emigrant in den USA. Doch obgleich er immer wieder auf die inneren und äußeren Schwierigkeiten zu sprechen kommt, die für ihn Zeit seines Lebens mit gesellschaftlichen Randstellungen verbunden waren, klingen seine posthum erschienenen Memoiren an keiner Stelle verbittert. Im Gegenteil gehört es zu Mosses Hauptanliegen, seinen Umgang mit seinen Zugehörigkeiten zu Minderheiten nüchtern zu reflektieren. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass er all den Schwierigkeiten und Brüchen seines Lebens zum Trotz viele glückliche Umstände erfahren hat und letzten Endes das geworden ist, was er immer sein wollte, ein unabhängiger und kritischer "freischwebender Intellektueller".

"Was der Mensch ist, verrät nur die Geschichte."

1918 in Berlin in das Verlagsimperium seines Großvaters Rudolf Mosse hineingeboren, verfügte Mosse bereits in früher Kindheit über eigenes Dienstpersonal und einen Schlosstrakt. Im Alter von zehn Jahren wurde er auf Kurt Hahns rigides Landerziehungsheim nach Salem geschickt. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft konnte sich die Familie in letzter Minute ins britische Exil retten, seinen Schulabschluss machte Mosse im Quäker-Internat Bootham in York.
In Cambridge nahm er 1937 das Studium der Geschichte auf, ohne zu diesem Zeitpunkt ein leidenschaftliches Interesse für diese Disziplin entwickelt zu haben. In diese Zeit fiel sein "politisches Erwachen", angefacht durch die Ereignisse in Spanien. Mosse gehörte dem Sozialistischen Club von Cambridge an, der Antifaschismus wurde sein "politisches und emotionales Bekenntnis." In der Retrospektive bewertet Mosse diese Bewegung, der er sich lange uneingeschränkt zugehörig fühlte, in einigen Punkten zwiespältig. So kritisiert er die "Idealisierung des ‚Volkes'", die politische Nähe zur sowjetischen Diktatur, latente Homophobie und eine rassistische Haltung gegenüber den marokkanischen Soldaten Francos: "Wir lebten ständig mit Widersprüchen, die wir einfach nicht als solche empfanden."
Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigrierte die Familie in die USA. Mosse, zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt, schloss hier sein Studium am Quäker-College Haverford bei Philadelphia ab und nahm einen Dissertationsstudiengang in Harvard auf. 1944 erhielt er einen Lehrauftrag an der University of Iowa.

Erstmals landesweite Schlagzeilen machte Mosse dort allerdings nicht etwa mit seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern mit einem Antrag zur Abschaffung des universitären Football-Teams. In Iowa entdeckte Mosse die Mentalitätsgeschichte für sich und stieg zum wissenschaftlichen Assistenten auf. Seine rhetorischen Fähigkeiten ließen ihn zum beliebten Vortragsgast werden und verhalfen ihm sogar zu einer eigenen Radiosendung. Nicht zuletzt dank seines Renommees als hervorragender Hochschullehrer erhielt Mosse 1955 einen Ruf von der University of Wisconsin in Madison, die seine langjährige akademische Heimat werden sollte.
Hier entstanden seine wichtigen Arbeiten zur Geschichte von Rassismus und völkischer Ideologie als Ursprünge des Nationalsozialismus. Daneben engagierte er sich in vielen Funktionen für die Demokratische Partei; eine Tätigkeit, die dem Emigranten das Gefühl gesellschaftlicher Akzeptanz vermittelte und in der er im Nachhinein den Grund für seine enge Verbundenheit zu den USA sieht. 1979 wurde Mosse auf den Lehrstuhl für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem berufen. Hier intensivierte er seine Forschung zur Geschichte des jüdischen Lebens in Deutschland und begann, sich mit der Verbindungen zwischen den Normen der Sexualität und nationalistischen Ideologien zu beschäftigen.

"Was du bist, werden deine historischen Schriften dir verraten."

Die Schilderung der Stationen seines ereignisreichen Lebens durchsetzt Mosse mit Gedanken zur Geschichtswissenschaft, die für ihn weit mehr war als ein Beruf, nämlich konstitutiv für sein Selbstverständnis: "Das Bemühen, der Geschichte meines eigenen Jahrhunderts, das eine so unerhörte und weitgehend selbstverschuldete Entwertung des Individualismus erlebt hat, einen Sinn abzugewinnen, war zugleich ein Versuch, meine eigene Vergangenheit zu verstehen." Die biographische Nähe zum zentralen Gegenstand seines wissenschaftlichen Arbeitens - "die Spannungen zwischen Insidern und Außenseitern der Gesellschaft" - war ihm stets bewusst und auch beabsichtigt, denn Mosse hielt das emotionale Nachvollziehen für einen unschätzbaren Zugang in die Mentalitätsgeschichte. Auf ein erfülltes Leben zurückblickend fällt es ihm merklich leicht, eine Perspektive der kritischen Distanz zu sich selbst einzunehmen und mit entwaffnender Unbekümmertheit von den Dominanten seines Lebens zu erzählen.

Obgleich er sich lebenslang und allerorts mit antisemitischen Ressentiments konfrontiert sah - so wurde er zum Beispiel an der Columbia University abgewiesen, weil die dortige "Judenquote" bereits erfüllt war -, war der jüdische Teil seiner Identität für Mosse unproblematischer als seine Homosexualität, die er bis ins gesetzte Alter selbst engen Freunden verschwieg. Mit Mitte 50 begann er seine erste feste Beziehung zu einem Mann, bis zu seinem Coming Out sollten noch weitere Jahre vergehen. Dann aber verleibte Mosse das Schwulsein auch seiner wissenschaftlichen Arbeit ein: "Begeistert" bewegte er sich in der Szene schwuler Intellektueller und arbeitete zur Geschichte der Konstruktion von Männlichkeit und Männlichkeitsbildern im Nationalsozialismus. 1997, zwei Jahre vor seinem Tod, hielt Mosse in seiner Geburtsstadt Berlin die Eröffnungsansprache zur Ausstellung "100 Jahre Schwulenbewegung" im Schwulen Museum, die er mit den Sätzen abschloss: "Ist es nicht gerade das Außenseitertum, das die Aufgabe hat, die träge und etablierte Gesellschaft wachzurütteln? (...) Man muss sich selbst immer ein Stück Außenseitertum bewahren, um nicht selbst träge zu werden. Natürlich müssen wir gegen Stereotype kämpfen. Dabei aber sollten wir uns den Stolz bewahren, freischwebende Intellektuelle zu sein."

Felix Schürmann

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Karl Marx: Vom Selbstmord

ISP-Verlag Köln, 120 S. gb. mit Schutzumschlag 16,50 €

Karl Marx ist dank der Finesse einiger Cracks, via Internet zum drittbesten Deutschen gekrönt worden- im ZDF (sic!). Sein Werk ist fast unerschöpflich, die Marx-Engels Werke umfassen drei Regalreihen und die Marx-Engels Gesamtausgabe kurz: MEGA umfasst zwei Regale und wird in etwa 40 Jahren abgeschlossen sein. Doch während so viel von Marxens Werk veröffentlicht ist, bietet der kleine Text "Vom Selbstmord" des jungen Marx einen anderen Blick auf sein Werk. Dieser Text - der sich nicht in den großen Werkzusammenstellungen findet (in Deutschland nur noch einmal 1932 veröffentlicht) - erschien 1846 in der kleinen Zeitschrift Gesellschaftsspiegel, eigentlich ist dieser Text lediglich eine Übersetzung einer 1838 von Jacques Peuchet veröffentlichten Untersuchung "Du suicide et de ses causes". Peuchet arbeitete als Polizeidirektor in Paris, seine politische Einstellung war eher konservativ bis royalistisch und doch interessierte sich der junge Marx für diesen Text, er übersetzte ihn nicht nur, er veränderte ihn an entscheidenden Stellen, kürzte und zog eigene Schlussfolgerungen, die in dem Band besonders dokumentiert und editorisch begleitet werden.

Marx beschäftigte sich mit einem für ihn ungewöhnlichem Thema, dem Selbstmord. Da sich Marx für zufördest den politischen und ökonomischen Themen zuwandte, stellt dieser Text ein Novum dar. Marx/Peuchet beschauen sich die Selbstmorde in Paris und die sozialen Ursachen, die zu den Selbstmorden führten. Bei den vier geschilderten Selbstmorden handelt es sich bei Dreien um Frauen. Eine Frau erträgt die wahnsinnige Eifersucht ihres Ehemannes nicht, eine Andere begeht Selbstmord, weil sie mit ihrem künftigen Ehemann vorehelichen Sex hat und die Eltern dies in Verwandt- und Bekanntschaft skandalisieren, dann weiß sich eine Frau nicht zu helfen, da sie unverheiratet schwanger ist. Der einzige dargestellte männliche Selbstmord, schildert einen Mann, der sich umbringt, weil er seiner Familie nicht mehr ernähren kann und dieser nicht weiter zur Last fallen möchte. Auffällig ist, dass die geschilderten Beispiele sich keineswegs nur auf die Leiden der Arbeiterklasse beziehen, vielmehr handelt es sich um Frauen aus bürgerlichen Familien. Der Selbstmord wird geschildert als Flucht vor der Gesellschaft, "wo man die tiefste Einsamkeit im Schoß von mehreren Millionen findet." Die Leiden der Gesellschaft sind nicht nur in der ökonomischen Struktur zu finden, sondern darunterliegend, denn: "die Übel sind in der Familie"!

Marx ergänzt Peuchets Text und folgert aus der patriarchalen Unterdrückung: "Das unglückliche Weib war zur unerträglichen Sklaverei verurteilt und diese Sklaverei übte Herr von M.... nur aus, gestützt auf den Code Civil und das Eigentumsrecht, gestützt auf einen gesellschaftlichen Zustand, der die Liebe unabhängig macht von den freien Empfindungen der Liebenden und dem eifersüchtigen Ehemann gestattet, seine Frau mit Schlössern zu umgeben, wie dem Geizhals seinen Geldkoffer; denn sie bildet nur einen Teil seines Inventariums" Marx/Peuchet verbinden ihre Kritik an einer Gesellschaft, die die Einzelne zum Selbstmord treibt und sie hinterher gar noch verhöhnt, ob dieser Tat, mit einer Kritik an einer bürgerlichen Gesellschaft und der Familie als ihrem Springquell, die die Frauen zum Sklaven des Mannes macht.

Adorno schrieb einmal: "Bei manchen Menschen ist es eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen" Man könnte meinen der junge Marx wollte daran anknüpfen als er schrieb: "Die feigsten, widerstandsunfähigsten Menschen werden unerbittlich, sobald sie die absolute elterliche Autorität geltend machen können. Der Missbrauch derselben ist gleichsam ein roher Ersatz für die viele Unterwürfigkeit und Abhängigkeit, denen sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft mit oder wider Willen unterwerfen."

Der Selbstmord ist nicht als Feigheit charakterisiert, sondern als Zuflucht gegen das Übel des Privatlebens; "in Ermanglung eines Besseren"! Dieses Bessere (Leben) müsse hergestellt werden und da weitergemacht werden, wo die französischen Revolution aufhörte. Dies ist einer der wenigen Texte von Marx in denen das Private politisch ist.

Leider ist Marx in seinem späteren Werk nur selten auf diese Erkenntnis zurückgekommen, so nur an einigen Stellen in "Das Kaptal. Kritik der politischen Ökonomie" und in "Die deutsche Ideologie". Engels griff sie noch mal auf in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", aber da tritt er eigentlich schon wieder hinter die Erhellungen Marxens zurück.

Dieser Text ist ein Fundstück, dass die DDR nicht veröffentlichte, der junge Marx hebt hervor und verbindet die Kritik an den Geschlechterverhältnissen mit einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer ökonomischen Grundlagen mit einem Blick in die Gefängnisse: dem Privatleben. Ein frühes Plädoyer für: Das Private ist politisch!

Franz Bieberkopf
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Michael Bochow, Rainer Marbach (Hg):
Islam und Homosexualität

Edition Waldschlösschen
Männerschwarmskript ISBN 3-935596-24-3

Die Auseinandersetzung mit dem Kulturkreis des Islam hat auch etuxx in Atem gehalten. Erinnert sei nur an den Streit um die November-Ausgabe der Siegessäule "Türken raus" und die Bedrohung des Café Posithiv. Allzu schnell wurde dabei immer wieder von "dem Islam" der "islamischen Religion", oder "den Islamisten" gesprochen, ohne auch nur die Bemühung einer Differenzierung zu erkennen zu geben. So gesehen könnte die jetzt vorliegende Sammlung von Texten zum Thema "Islam und Homosexualität" als ein fruchtbarer Beitrag gelesen werden, der die Debatte entspannt - vorausgesetzt, man will sich wirklich darauf einlassen.

Die in dem Buch veröffentlichten Vorträge wurden im Dezember 2002 im Waldschlösschen gehalten. Sie lassen sich drei Themenkomplexen zuordnen, von denen der größere zunächst einmal auf das Verhältnis zwischen Religion und Staat in islamischen Ländern eingeht. In Vergleichen zwischen der Türkei und dem Iran sowie Ägypten und Saudi-Arabien arbeiten die Autorinnen Renate Dietrich und Anja Hänsch die ganz unterschiedlichen Adaptionen und Wechselwirkungen heraus. Besonders interessant ist hier die Problematisierung des westlichen Verständnisses von Religion und seine vorschnelle Übertragung auf fremde Kulturen. Mißverständnisse sind damit vorprogrammiert. Und überhaupt: die eigene Begrifflichkeit in Frage stellen und sich zu einer fremden Sichtweise verführen lassen, das ist das Anliegen von Anja Hänsch, die den Begriff "Dîn" in seinen unterschiedlichen Facetten darstellt.

Der Versuch Andreas Ismail Mohrs schließlich, den Koran und seine Auslegungen, die sogenannten Hadithe, auf Aussagen zur Homosexualität hin zu überprüfen, erinnert allerdings allzu sehr an das Bemühen fortschrittlicher christlicher Theologen der 70er und 80er Jahre, der Bibel homofreundliche Aussagen abzuringen, um sie gegen die Fundamentalisten zu verteidigen. Immerhin, es ist - nach Aussage des Autors - der erste Versuch in dieser Richtung. Und wahrscheinlich nur für Leute interessant, die ein gesteigertes Interesse an literarkritischer Exegese haben. Den Umgang mit dem Koran als "Heiliger Schrift" und Autorität stellt diese Arbeit leider nicht grundsätzlich in Frage.

Nach diesen eher grundsätzlichen Betrachtungen lenkt das Buch schließlich die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart: Wie leben heute Schwule und Lesben in islamischen Ländern? fragt Ali Mahdjoubi, der im Iran geboren wurde und seit über zehn Jahren in Deutschland lebt. Der Iran ist für Schwule das Paradies auf Erden (ja Sie haben richtig gelesen), aber mehr noch die Hölle (so hatten Sie es auch erwartet, nicht wahr?). Die den Alltag bestimmenden Widersprüche schildert Mahdjoubi sehr anschaulich und an konkreten Beispielen. In keinem anderen Land wird so ausführlich und öffentlich über anale Praktiken geredet, natürlich nur, um sie hinterher in Grund und Boden zu verdammen.

Ob es in erster Linie doch daran liegt, dass es die patriarchale Struktur ist, die den Macho hervorgebracht hat? Dieser soll ja den Weibmann als Verräter des eigenen Standes hassen. Meint jedenfalls der Soziologe Michael Bochow, der sich an dieser Stelle zu Wort meldet. Schade eigentlich, denn was eben noch aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehr differenziert dargestellt wurde, droht spätestens hier wieder in den allzubekannten psycho-soziologischen Betrachtungen unterzugehen, die zudem mit der Überheblichkeit westlicher Wissenschaftsgläubigkeit daherkommen. Um es deutlicher zusagen: Michael Bochow hätte an dieser Stelle einfach schweigen sollen. Die traditionelle patriarchale Struktur der türkischen Gesellschaft, so Bochow, sei viel relevanter dafür, wie gleichgeschlechtliche Kontakte gelebt werden, als (so wörtlich:) "diese ganzen islamischen Girlanden, die da immer geflochten werden" (S.103). Das ist ärgerlich, weil es sich nicht als Ergänzung liest, sondern in der altklugen Manier eines westlichen Wissenschaftlers daherkommt, der sein bekanntes Weltbild allem bisher Gesagten überstülpt. Bestenfalls kann Bochows Beitrag hier eher als ein Lehrstück über das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Paradigmen gelesen werden.

Abschließende Betrachtungen über das Leben schwuler Türken in Deutschland und in ihrer Heimat können den entstandenen Schaden nicht wirklich beheben. Auch wenn es spannend zu lesen ist, was Koray Ali Günay und Abdurrahman Mercan zu sagen haben. Was sicher daran liegt, dass sich beide seit vielen Jahren mit den Problemen türkischstämmiger Muslime im bundesdeutschen Alltag befassen. Beide Autoren berichten über schwule Türken in ihrem Heimatland und in Deutschland und der Selbstorganisation muslimischer Homos. Günay ist Herausgeber der türkischen Homo-Zeitung "Lubunya", Mercan ist Gründer der Gruppe TürkGay and Lesbian.

Trotz oder gerade wegen seiner Widersprüchlichkeit ist das Buch unbedingt wert gelesen zu werden. In der Auseinandersetzung mit fremder Kultur und fremden Gebräuchen stellt es einen wichtigen Beitrag dar, durch den vor allem deutlich wird, wie schwer es ist, die Konflikte mit einer fremden Kultur überhaupt erst verständlich und verstehbar zu machen, bevor man über Lösungen nachdenkt.          

Onan Onair

edith: O.O. beklagt die fehlende "Bemühung einer Differenzierung", ohne sie selbst immer zu zeigen: zur "Bedrohung des Café Posithiv" mutieren bei ihm die initiationsrituellen übergriffe migrantischer puberkel; das buch "könnte" als fruchtbarer beitrag gelesen werden? nein, es kann! mahdjoubi beschreibt "Homosexualität", nicht nur "Schwule und Lesben"! abschließend ginge es um das leben "schwuler Türken"? nein, günay schreibt präziser und differenziert über "Homosexualität" und "Türkeistämmige", mercan von "muslimischen Homosexuellen"!  
edith: aber v. a., welchen fehler beging bochow? als westlicher sozialwissenschaftler sich überhaupt zum thema zu äußern? der verriß wird weder plausibel noch gar begründet. so zeigt nicht das buch eine "Widersprüchlichkeit", sondern die kritik selbst wird zum "Lehrstück über das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Paradigmen" - sofern wir denn der rezensentIn dieses niveau nicht gleich bestreiten wollen.  
onair: liebe edith, mit der fehlenden differenzierung in der diskussion meine ich keinesfalls das buch, das möchte ich hier nochmal klarstellen. wenn du auf frühere diskussionen anspielst, musst du schon genauer werden, sonst ist das hier (auch für mich) nicht nachvollziehbar. ...solltest du meine rezension als verriss verstanden haben, hast du sie wohl nicht genau gelesen. im gegenteil. gern ersetze ich das "könnte" durch ein "kann" mit ausrufezeichen...  
onair: ... den beitrag von bochow halte ich deshalb für misslungen, weil er immer wieder vergleiche bemüht, die m.e. hinken oder ungenau sind. "Der Islam kann in institutioneller Hinsicht, um eine europäisch-christliche Metaphorik zu gebrauchen, als radikal evangelisch gesehen werden", schreibt er z.B. (s.100). ich halte solche metaphern und vergleiche an dieser stelle für äußerst unglücklich (und genaugenommen auch falsch), weil sie alte denkmuster nicht infragestellen, sondern immer wieder reaktivieren. das hier auszuführen, sprengt leider den rahmen, den eine rezension vorgibt.  
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Verbrecherverlag 2003, 12.80€
herausgegeben von Verena Sarah Diehl, Jörg Sundermeier, Werner Labisch:
Neuköllnbuch

Es gibt viele Stadtteile in Berlin, einige haben einen besonderen Nimbus. Neben Kreuzberg gelegen ist Neukölln, ein paradoxes Exemplar von Stadtteil, nur selten überquert der Bewohner von Kreuzberg 36 den Kanal, um zu diesem Fleckchen Erde zu gelangen - ein Stadtteil voll Schauermärchen. Ein richtiges Banlieu, nur im Gegensatz zu Paris im Zentrum der Metropole. Neukölln ist fast so groß wie Bochum. Etwa 340.000 Menschen leben hier auf engem Raum bei - manchmal miteinander. Viele Neuköllner sind türkischstämmiger Herkunft. Das Viertel ist geprägt durch eine Vielzahl an Billigläden und türkischen Ramschgeschäften. Die Arbeitslosenquote ist die zweithöchste ganz Berlins und die Sozialhilfeempfänger geben sich hier die Klinke in die Hand. Ein Stadtteil der wenig glorifiziert wird, dafür um so mehr in seinem negativem Bild mystifiziert - a la: Gangs verunsichern Nachts die Strassen und liefern sich Schussgefechte. Vor drei Jahren verpasste der Spiegel dem Bezirk das Prädikat: Besonders Gefährlich.

Der Verbercherverlag nahm sich Neukölln zur Brust. Nach dem Mitte- und dem Kreuzbergbuch erschien nun das Neuköllnbuch. Die Herausgeber bieten einen bunten Strauß Autoren, die in z.T. liebenswürdigerweise ihre Neuköllngeschichten zum Besten geben.

Denis Yüksel erzählt vom verschrobenen türkischen Videoverleiher am Hermanplatz, dessen beste Jahre schon lange vorbei sind. Nachdem die türkischen Fernsehprogramme via Satelit einzog hielten in die türkischen Haushalte Deutschlands, verschwand der Videobedarf an Billigproduktionen der türkischen Filmindustrie und auch der türkische Videoverleih in Neukölln ging danieder. Der Verleiher flüchtete sich in seine eigene Welt und kommuniziert zumeist mit ausgehängten Zettel mit seinen Kunden: "Gebt mir keine Ratschläge. Gebt mir Geld." Ein Lebensmotto wohl jedes Neuköllners.

Ein ganz anderes Leben spielt sich in den Betten Neuköllns ab, hier wird gepoppt und zwar besser als woanders. Manuela Kay - derweil auch Redakteurin des schwul-lesbischen Stadtmagazins Siegessäule - kann es nicht lassen, sie weiss "Neuköllnerinnen ficken besser". ihre besten flüchtigen Affären und one-night-stands wohnen in Neukölln. Zwar landen ihre Neuköllner Lieben bislang immer auf dem emotionalen Müllhaufen, aber ficken lässt es sich unter Frauen hier am besten. Vielleicht, weil die Neuköllner Lesbe zumeist etwas unbekümmerter und direkter ist. Anders bei den triebgesteuerten Schwanzträgern, wenn sie sich nicht im "Ficken 3000" rumtreiben suchen sie ihr Glück im Chat. Leonhard Lorek beschreibt Armin als Kiffer am Rande der Welt - sprich: Neukölln. Arbeitslos und auf das größte Sozialamt Europas angewiesen, bestellt Armin sich seinen Sex in die Wohnung. Abstruse Fetischisten, Nacktputzer und Pampersträger laufen ihm im Chat über den Weg, lediglich abgefedert durch den Hanf, den er sich auf dem Balkon züchtet. Die absurde Realität der Chatwelt als Ersatz für die absurde Realität vor der Haustür.

Nicht nur Liebe durchströmt die Beschreibung dieses Stadtteils. Die durch den gleichnamigen Film zur Legende gewordene Sonnenallee ist in der Realität, eine schlichte und belanglose Strasse, deren einzige Ey -cool-ey- Kneipe das "Viagra" ist und das will was heissen. Die Sonnenallee ist pure Freude oder: "der Boulevard des komplett nutzlosen Gewerbes". Es gibt neben Fleischereien, Heimtierbedarf und Saufkneipen nichts von Interesse. Da hilft es auch nichts, dass einmal im Jahr das Fest "Singende und Klingende Sonnenallee" stattfindet. Das Fest sei wie die Strasse und der Bezirk: beschissen, meint Heike Runge. In dem man allen Grund hat sich zu betrinken, bis die Birne singt.

Ob Ol den typischen Neuköllner porträtiert oder Thomas Keck den türkischen Pseudo-Hetro Momo - der nur auf der Suche nach Riesenschwänzen ist - immer sind die Geschichten von einer Hassliebe gekennzeichnet. Ein Bezirk der weder Glamour noch Mythos aufzuweisen hat, dafür billige Mieten, Stricher, Gangs, Ramschläden und Trinker, ist für eine solch absonderliche Liebesform, schlicht prädestiniert. Vom "Rande der Welt" nähern sich Jungle-World-Schreiberlinge und honorige Autoren wie Peter O. Chotjewitz einem Phänomen an, das eigentlich unbeschreiblich ist. Ich wohne in Kreuzberg, an der Grenze zu Neukölln nur selten wechsle ich in den Randbezirk rüber, wenn Samstag der Kühlschrank leer ist und nur noch der Karstadttempel am Hermannplatz geöffnet ist oder meine Kollegen zum Redaktionstreffen trommeln, aber vielleicht sollte ich jetzt erstmal was zu Kiffen in der Hasenheide kaufen, oder auf die Klappe am Zickenplatz gehen, aber der ist ja eigentlich schon wieder in Kreuzberg.

Bodo Niendel
Dr. Oetker: Und welche rezensiert das Bielefeldbuch? Vielleicht hilft das gegen die Berlinzentriertheit von etuxx. Ich habe es leider nicht gelesen, deshalb komme ich zumindest vorerst nicht in Frage.  
Robert M.: Mensch Puddingprinzessin, nu kipp ma' nich' gleich ausse Latschen, wenn wir uns mal als Berliner ein so genanntes Berlinbuch ins Regal gestellt haben, eins von Neune!  
Wenn einem nichts besseres einfällt...: .. meckert man halt über die Sprache: Viele Neuköllner sind nämlich gar nicht "türkischstämmiger Herkunft", sondern entweder türkischer Herkunft oder türkischstämmig. Und auch die türkischen Fernsehprogramme "hielten" niemals "einzog" in die Haushalte, sondern sie zogen entweder einfach ein oder hielten Einzug.  
Brenda: einmal liest mensch nicht Korrektur und dann sowas... jo, is beides etwas peinlich.  
Horst W. (Author vielgerühmter Kolumnen): Guten Tag! Ich gehe auch selten über den Kanal. Bei der Rückkehr beschleicht mich immer ein Gefühl der Erleichterung, wie ich es früher hatte hatte, wenn ich aus der Hauptstadt der DDR zurückkehrte. Die Kultur der Breitbeinigkeit und des auf den Boden Spuckens ist in meinem Bezirk ein klein wenig seltener vertreten. Dafür ist die Scheißhaufendichte ähnlich hoch. Man und natürlich auch frau kann nicht alles haben. Noch eine Bitte an den Herrn Oetker: schreiben Sie doch bitte eine Rezension zum Bielefeld-Buch. Vielleicht gelingt es Ihnen, mich als Alt-Bielefelder davon zu überzeugen, warum ich als Routine-Berliner eine andere Stadt als Berlin zum Mittelpunkt meiner Gedanken machen sollte.  
Medusa: @Horst W: Schönen Guten Abend, Herr Kolumnenschreiber! Ihrer Charakterisierung von Neukölln habe ich nichts hinzu zu fügen, denn ich habe in den 80ern mal kurz dort gewohnt und es geschafft, das meiste davon zu verdrängen (von Neukölln, nicht den 80er Jahren). In Erwartung Ihrer nächsten, sicher wieder sehr erbaulichen Beiträge.  
Lemmy: Frage an alle: Kennt eigentlich irgendwer irgendein Kreuzberg/Schöneberg/Neukölln-Buch bzw. schwullesbischen Stadt+Landführer bzw. Filmlexikon bzw. SM-für-Lesben-Agenda wo Frau SiS-M.-Kay nicht irgendwelche Texte absondert? Wie macht die das? Gibt's da mittlerweile eine spezielle M.Kay-Schreibsoftware, die je nach Bedarf passende Texbausteine auswirft? Fragen über Fragen.  
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Querverlag 2003, 178 Seiten, 12.90€
Lutz van Dijk und Günther Grau (Mitarbeit):
Einsam war ich nie. Schwule unter dem Hakenkreuz 1933-1945.

Dieses Buch hat mich tief beeindruckt, denn ganz entgegen meiner ersten Befürchtungen handelt es sich nicht um biographische Berichte, bei denen ein geschwätziges Plappern überwiegt. Nein, dieses Buch hat nichts mit Guido Knopp zu tun. Lutz van Dijk und Günter Grau suchten Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre schwule Männer auf, die den Faschismus erfahren haben, und porträtierten sie. Für die Neuauflage wurde, soweit dies möglich war, mit den Porträtierten nochmals Kontakt aufgenommen. So entstanden Berichte über ältere schwule Männer, die ein eindrucksvolles Bild von ihren gelebten homosexuellen Erfahrungen vermitteln. Vielfältig ist die Auswahl:

Friedrich-Paul von Grozheim entstammte dem wilhelminischen Grossbürgertum. Nicht ganz frei vom Antisemitismus stolperte er in den Faschismus. Homosexuelle Erfahrungen sammelte er schon in jungen Jahren in seiner Heimatstadt Lübeck. Dort gab es offene Treffpunkte, und die zwanziger Jahre wurden auch in der Kleinstadt als goldene Zwanziger erfahren. Nach den ersten Repressalien in den Anfangsjahren der Nazis, kam es 1937 zu Massenverhaftungen schwuler Männer in Lübeck. Sie wurden verprügelt, verhört und verfolgt. Einige, die wie Friedrich-Paul von Grozheim ihrer Liebe weiter nachgingen, mussten sich kastrieren lassen um nicht ins Konzentrationslager zu kommen.

"In Auschwitz hatte ich meine größte Liebe...". Dieser Satz prägt den wohl beeindruckensten Bericht von Karl B. Er wurde wegen des Verstosses gegen den §175 im Jahre 1938 angezeigt und kam zunächst in das Konzentrationslager Neuengamme. Weil er sich weigerte die Brotration der ihm anvertrauten polnischen Häftlinge zugunsten der "reichsdeutschen" Häftlinge zu halbieren, kam er nach Auschwitz. Dort konnte er vorerst als Krankenpfleger arbeiten und mit Glück seinen Rosa Winkel entfernen. Das Überleben sichert ihm die deklarierung als politischer Häftling, damit ist er im Gegensatz zu den anderen Häftlingen nicht sofort mit dem Tod bedroht. Er lernt in der Stube des Blockältesten Zbigniew kennen und damit das erste und letzte Mal die Liebe zu einem Mann. Zbigniew wurde ermordet.
Im Jahre 1988 setzte sich eine Bremer Schwuleninitiative für Karl B ein. Für acht Jahre Konzentrationlager erhielt er 5.000 DM Entschädigung.

Gad Beck war jüdischer homosexueller Schüler. Nach der Deportation seiner Eltern tauchte er 1942 unter. Als "Mischlingsjude" gelang es ihm, bei einem Aufräumkommando zu arbeiten, weil sein Befehlshaber ein gewisses Interesse an ihm zeigte. Beck schließt sich einer illegalen Gruppe an und organisiert Verstecke bei Bekannten und Verwandten für Juden, die der Deportation entgangen sind. Er verwaltet das Geld, das er von jüdischen Freunden und Organisationen aus dem Ausland bekommt, um die Verpflegung und Unterkunft der Verfolgten zu bestreiten. Da er als Kind weniger auffällt, gelingt es ihm, ein ganzes Netzwerk aufzubauen, das Juden den Weg in die Freiheit bahnt. Im Februar 1945 wird er von einem Spitzel verraten und verhaftet, doch er hat Glück: Das Lager wird wenige Monate später von der Roten Armee befreit. Schon im Juni 1945 wird er mit 22 Jahren der "Erste Vertreter jüdischer Interessen in Berlin".

Die elf Berichte sind so eindringlich und mit Herzenswärme geschildert, dass ich an vielen Stellen auch schmunzeln musste. "Mama ich habe mich mit Graf von der Schulenburg verlobt". Die Mutter: "Aber Junge, das ist ja furchtbar! Die Schulenburgs sind doch evangelisch". Doch die Intensität der einzelnen Berichte schildert auch die Grausamkeit der Verbrechen, was mir auch die Tränen in die Augen trieb.

Zum Ende des Buchs gibt Günther Grau einen Überblick über den aktuellen Foschungsstand zur Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus. Bei aller Betroffenheit darf nicht übersehen werden, dass der Faschismus mit den Schwulen schon vorsichtiger als mit anderen Opfergruppen umging. Im Zentrum des NS-Programms stand die Vernichtung der europäischen Juden. Nach heutigem Kenntnisstand kamen in den Konzentrationslagern der Nazis etwa 6.000 Homosexuelle um. Schwule wurden nicht per se verfolgt, sondern ihre Handlungen wurde unter Strafe gestellt. "Dem überführten Homsexuellen drohten nicht die Gaskammern. Er sollte mit Straf- und Abschreckungsmaßnahmen diszipliniert werden, die ein Ziel verfolgten: ihn von seiner sexuellen Praxis abzuschrecken."

Dieses Buch ist ein bedrückender und - so man das sagen kann - zuweilen auch heiterer Bericht über Schwule im Faschismus. Die überarbeitete Neuauflage war nötig. Solange es noch möglich ist - man muss immer wieder diesen schwulen alten Männern zuhören.

Bodo Niendel
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Verlag Assoziation A, 2003, 14€.
Das Unternehmen Krieg

Die Privatisierung der Gewalt · Profitgier auf Kosten der Zivilbevölkerung Das Phänomen Krieg bleibt, die Formen ändern sich. "Das Unternehmen Krieg", herausgegeben von Dario Azzellini und Boris Kanzleiter, zeigt anhand von Konfliktherden rund um den Globus auf, wie neben staatlichen Armeen zunehmend private Militärunternehmen auftreten.

Der Terror in Guatemala hat einen Namen: Rios Montt. Unter dem damaligen Diktator begannen 1982 Massaker und Vertreibungen, um die Dörfer Guatemalas zu säubern. Der Ausgangspunkt, um ein System der Gewalt und der Angst zu etablieren, das weit über das Ende der Militärdiktatur bis heute funktioniert. Im vielleicht beeindruckendsten Kapitel von "Das Unternehmen Krieg" beschreibt Matilde Gonzales die vollkommene Beherrschung des Alltags durch militärischen und paramilitärischen Terror. Systematische Vergewaltigungen von Frauen in aller Öffentlichkeit wie zu Hause, hatten den Zweck, den Terror und somit die Kontrolle bis in die letzten Winkel der Privatsphäre zu tragen.

Die Paramilitärs sind längst in legale Strukturen überführt worden. Sie kontrollieren die Verwaltung und die Verwendung von Entwicklungsgeldern. Montt ist wieder Präsidentschaftskandidat und kann bei den Wahlen im November vor allem auf dem Land mit Stimmen rechnen.

Wie einst Rios Montt setzt auch der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez auf Gewalt. Seit seinem Amtsantritt hat der Bürgerkrieg an Intensität zugenommen. Dario Azzellini gibt einen tiefen Einblick in staatliche und parastaatliche Unterdrückungsmechanismen und veranschaulicht den Einfluss der USA sowie privater, westlicher Sicherheitsunternehmen. Die reichen Ölvorkommen versprechen hohe Profite. Das Drogengeschäft blüht, trotz der Milliarden, die die USA für den Antidrogenkampf über den Plan Colombia ins Land pumpen. Um ungestört und bei hohen Profiten wirken zu können, werden soziale Organisationen eingeschüchtert, Gewerkschafter von Todesschwadronen ermordet, Kleinbauern zu Tausenden von ihrem Land vertrieben. Wer stört, verschwindet.

Auch Indonesien ist ein Beispiel dafür, wie sich die Armee unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung Macht und Pfründe sichert. Wie Henri Myrttinen beschreibt, stammt nur ein Drittel des Budgets der Armee aus dem indonesischen Haushalt, der Rest stammt aus mehr oder weniger legalen Geschäften - aus Staatsunternehmen, eigenen Firmen und durch Beteiligung an Drogenhandel oder Prostitution. Unabhängigkeitsbestrebungen werden vor allem dort unterdrückt, wo die Armee von der Ausbeutung reicher Bodenschatzvorkommen profitiert - besonders in Aceh und West Papua. Widerstand aus der Bevölkerung wird brutal niedergeschlagen, auch durch paramilitärische Milizen. Staat und Armee haben den US-amerikanischen Kreuzzug gegen den Terrorismus nach anfänglichen Irritationen längst zu ihrem Vorteil wandeln können.

"Das Unternehmen Krieg" zeigt durchaus gelungen weltweite Zusammenhänge, Tendenzen und Verstrickungen auf. Die Kapitel unterscheiden sich in Stil und Blickwinkel und lassen das Buch im Ganzen etwas fragmentiert erscheinen. Der Leser mag den Eindruck erhalten, die Profitaussichten in einer Kriegsökonomie seien der Hauptgrund heutiger bewaffneter, innerstaatlicher Konflikte. "Das Unternehmen Krieg" veranschaulicht, wie verschiedene Akteure immense Vorteile aus der Kriegsökonomie ziehen, Armee- und Milizenführern ebenso wie Politikern, der Oligarchie oder internationalen Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen. Dies gilt aber nicht nur für aktuelle Konflikte. Richtig ist, dass eben diesen Akteuren an der Beendigung von Konflikten wenig gelegen sein kann. Es sei denn, es gelingt bereits im Vorfeld eine Überführung der Kriegsökonomie in legale Strukturen, begleitet von einer offiziellen Amnestie oder faktischen Straflosigkeit für begangene Kriegsverbrechen und einer "Alltagskriminalität", der vornehmlich Kritiker zum Opfer fallen. Guatemala mag da Vorreiter sein.

Markus Plate
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VSA-Verlag Hamburg 2003. 7,80€.
Ursula Engelen-Kefer / Klaus Wiesehügel (Hg.):
Sozialstaat - solidarisch, effizient, zukunftssicher.

Dieses Buch repräsentiert das Minderheitenvotum innerhalb der Rürup-Kommission. Die VertreterInnen der Gewerkschaft beschrieben ihre Kritik und Alternativen zu dem von der Rürup-Kommission vorgeschlagenen Entwicklungsweg. Um es gleich vorweg zu sagen: dieses Buch ist ein reformistisches Buch. Es stellt die Aneignung des Werts nicht in Frage. Kapital und Arbeit stehen in diesem Band eben nicht unversöhnlich einander gegenüber.

Trotzdem ist diese Kritik wichtig. Auf etuxx gab es eine Reihe von Statements zur Sozialpolitik, die die Einschnitte innerhalb der Sozialpoltik z.T. begrüßten oder dahingehend argumentierten, dass, ob Neoliberalismus oder nicht, alle Positionen dem Kapitalismus verhaftet blieben und daher nicht weiter beachtenswert wären. Dem tritt dieser Band in einem ideologiekritischen Sinne entgegen, ebenso wie dem von der Bundesregierung forcierten Entwicklungsweg neoliberaler Vergesellschaftung.

Die Zeiten haben sich geändert, und der Sozialstaat wird neu justiert, konsensual scheint dabei, dass mit der Senkung von Sozialleistungen und einer Verringerung des Arbeitgeberanteils die erlahmte Wirtschaft angekurbelt werden könnte. So auch das Credo innerhalb der Rürup-Kommission. Unter dieser Vorgabe versuchte sie, die ihr gestellte Aufgabe zu lösen, nämlich die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig für die nächsten 30 Jahre zu sichern. Dazu schlägt die Mehrheit der Kommission grob schematisiert folgende Maßnahmen vor:
- Senkung des Beitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung durch Herausnahme von Leistungen. Auslagerung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung. Allgemein höhere Zuzahlungen bei Leistungen.
- Zwei Modelle für die Krankenversicherung: eine Bürgerversicherung oder alternativ die auch von der Herzog-Kommission favorisierte "Kopfsteuer" (sozialer Ausgleich erfolgt durch eine steuerfinanzierte Umlage). Die Kommission konnte sich nicht auf eines der Modelle einigen.
- Schrittweise Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre. Eine weitere massive Absenkung des Rentenniveaus. Ausbau der kapitalgedeckten Altersvorsorge (Riester-Rente). Also: von der staatlichen Versicherung hin zum privaten Risiko.
- Beschränkung der Leistungen der Pflegeversicherung durch Höchstbeträge für stationäre und ambulante Betreuung. Dies führt für viele Pflegebedürftige zu einer Rückkehr in die Abhängigkeit von der Sozialhilfe.

Im Kern bedeuten diese Maßnahmen eine massive Einschränkung der bisherigen Leistungen bei einer Abwälzung von Finanzlasten auf die Versicherten. Nicht zuletzt wird der Arbeitgeberanteil gesenkt indem Leistungen nicht mehr paritätisch getragen werden sondern allein durch den Versicherten (Krankengeld, Zahnbehandlung). Zudem werden die Leistungen nicht mehr allein durch Steuern und Beiträge finanziert sondern, wie im Fall der Riester-Rente, durch Kapitaldeckung.

Hinter den Maßnahmen der Kommission steht die These, dass die lohnzentrierte Finanzierung an ihre Grenzen gerate. Kapitalismusimmanent (so argumentieren auch die Autoren dieses Bandes) bedeutet dies, dass ein Reformbedarf unbestreitbar ist, da die Lebensrealität der Lohnabhängigen sich fundamental gewandelt hat. Erwerbsbiographien, Lebens- und Haushaltsgemeinsschaften, die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und die anteilige Abnahme der erwerbstätigen Bevölkerung unterscheiden sich deutlich von der Situation vor 30 Jahren. Doch (und hier unterscheiden sich die Vorschläge der Rürup-Kritiker von denen der Kommission) die Grundlage für die Erosion des Sozialsystems ist eine konstant hohe Massenarbeitslosigkeit, die eine Finanzierung des Sozialsystems durch die "in Lohn und Brot" verbliebenen Beschäftigten untergräbt.

Die KritikerInnen betrachten die Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik als Einheit. Nicht die "Senkung des Faktors Arbeit" und die damit verbundene Absenkung des sozialstaatlichen Transfers steht im Vordergrund, sondern das Aufzeigen von langfristigen Perspektiven, die auf Grundlage des bisherigen Sicherungssystems tragfähig bleiben. Dazu setzen die KritikerInnen beim Sparen nicht bei den Versicherten an, sondern an der Frage, wie sozialer Ausgleich herzustellen ist, nämlich indem man die Bezieher höherer Einkommen an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligt. Zudem verweisen Sie darauf, dass speziell die Bezieher von Zins- und Vermögenseinkommen nicht hinreichend zur Finanzierung der sozialen Sicherung herangezogen werden.

Die Autoren resümieren zu den Zielen der "nachhaltigen" Vorschläge der Kommission:
"Die Verlierer der vorgeschlagenen Veränderungen werden die bereits benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft, wie Schwerbehinderte und Erwerbsgeminderte, sein aber auch diejenigen, die unterbrochene Erwerbsbiografien haben - insbesondere Frauen oder Langzeitarbeitslose". Ute Klammer verweist in dem Beitrag "Frauen brauchen mehr als Familienpolitik" auf die geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die immer noch dem staatlich begünstigten ernährerzentrierten Modell entspricht, das Frauen benachteiligt. Sie prognostiziert, dass bei Umsetzung der Rürup-Vorschläge Frauen auf dem Arbeitsmarkt wieder verstärkt benachteiligt werden. Die Ideologiekritik der AutorInnen geht an keiner Stelle weit genug. Sätze wie "Er (der Sozialstaat; BN) trägt wesentlich zu sozialem Frieden bei und ist als Beitrag zu einer stabilen ökonomischen Entwicklung nicht zu unterschätzen" lösen ein Erschauern aus, weil darin die grundlegenden Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung negiert werden und Kapital und Arbeit als gleichrangige Kontrahenten erscheinen, bei denen der Staat nur als neutraler Dritter für Gerechtigkeit zu sorgen habe. Dass dies so nicht funktioniert, erfahren die Verkäufer der Ware Arbeitskraft am eigenen Leib.

Dennoch widerlegt dieses Buch die Mär von der Unbezahlbarkeit des Sozialstaats, einer Ideologie, die so tief in die Linke eingedrungen ist, dass wir alle akzeptieren wollen zu sparen und dabei schlicht übersehen, dass diese Kommissionen (von Hartz und Rürup bis Herzog) eine Entwicklung vorantreiben, die die Bezieher hoher Einkommen und Bezüge begünstigt (durch Abbau der Transferleistungen und Reduzierung der Steuern) und einen immer größeren Teil der Bevölkerung einem Leben in Armut zutreibt (ein bedeutender Teil RenterInnen wird spätestens ab 2030 am Ende eines arbeitreichen Lebens eine Rente nur auf Höhe der Sozialhilfe bekommen). Die Kritik der AutorInnen klingt das eine oder andere mal wie aus der keynesianischen Mottenkiste der alten Sozialdemokratie und dennoch belegen die Autoren u.a. mit dem Verweis auf die sozialstaatliche Entwicklung in anderen Industriestaaten, dass aus den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen keine Notwendigkeit abzuleiten ist für eine neoliberale Vergesellschaftung.

Franz Bieberkopf

Maynard: Es bleibt unklar, wieso der Sozialstaat nicht bald unbezahlbar werden sollte; der demographische Faktor z.B. ist ja nun kein Hirngespinst. Konzepte zur radikalen Umgestaltung des Steuer- und Sozialversicherungssystems - und zwar OHNE dass es Geringverdienenden, Arbeitslosen etc. schlechter ginge - liegen längst auf dem Tisch. Das Problem sind die Lobbyisten (auch die Gewerkschaften und Parteien), die sich so lange gegenseitig blockieren werden, bis irgendwann ein neuer Führer am Horizont auftaucht. Und dann ist es, gerade in Deutschland, immer zu spät.  
Franz B. @Sir John Maynard: Das mit dem demographischen Faktor ist doch alles quatsch. Jährlich steigt die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter um mehr als 1% zudem ist ein Wirtschaftwachstum von mehr als 1,5-2 % im Durchschnitt die nächsten 20 Jahre zuerwarten (vorausgesetzt Kolektivierungsversuche scheitern), ausserdem kippt der demographische Faktor bei Öffnung der Grenzen. Gewerkschaften blockieren sich nicht gegenseitig, sie sind in der deffensive und erscheinen eher als Zaungäste beim grössten Angriff des Kaptals in den letzten jahrzehnten. Einen neuen Führer wird es nicht geben. Ganz einfach deshalb, weil es Deutschland isolieren würde und damit die Kapitalakkumulation hemmen würde.  
Maynard: Der demographische Faktor ist leider ziemlich real. Ein Rentner pro Arbeitendem reicht da schon zur Unbezahlbarkeit aus. Dennoch müsste das kein Problem sein - wenn nur die LobbyistInnen nicht wären. Es gibt Modelle, die dennoch niemanden schlechter stellten - allein, in dieser Scheiss-Lobby-Republik werden sie nie umgesetzt werden können.  
holmi: Übrigens wird momentan Kinderlosigkeit belohnt, ein demographischer Faktor der eng ans Homosein gekoppelt ist. Schwule und Lesben sollten endlich fordern: Wir wollen für die kinderreproduzierenden Heteros zahlen!  
AK SpoKo: Den Sozialstaat als repressives Verwaltungsinstrumentarium für den menschlichen Ausschuss der Kapitalvergesellschaftung zu denunzieren wäre Aufgabe kommunistischer Kritik (selbstverständlich ohne in Apologie der aktuellen Entwicklungen zu verfallen). siehe Link am Beispiel von...  Florida-Rolf!
Fred B.: an holmi: Was redest Du für ein Blech! Es gibt Kindergeld und Kinderfreibeträge  
Fred B.: an Maynard: Der Hang zur Lobby ist leider sehr eng an die freiheitlich demokratische Gesellschaft geknüpft. Das Funktioniert in der WG oder in einer Hausgemeinschaft genauso wie einem Staat. Es ist eher so, dass Linke mit ihrer untereinander gern verstrittenen Vielstimmigkeit es nicht schaffen, sich zu einem Sprachrohr zu vereinen.  
Maynard: @ Franz B.: Dein Wirtschaftswachstum (das es sowieso kaum geben wird), kannst Du Dir, sorry, in die Haare schmieren. Das ist ein kapitalistisches Hamsterrad. Und, o.k., das Kapital ist der bedeutendste antifaschistische Faktor im Lande; wussten wir ja schon längst. - @ Fred: Nö, Lobbyismus gibt es auch in unfreieren Gesellschaften zur Genüge! Eine wirklich freie Gesellschaft ist eine lobbyistenfreie!  
Fred B.: an Maynhard: Quark mit Soße! Oder andersrum die Welt wird nie so sehr dem Ideal angenähert sein, dass man sich von Macht oder Lobbyismus freimachen könnte. Es geht für mich bei so einer Frage immer eher um den verantwortlichen Umgang mit beispielsweise Macht, Eigentum oder Lobbyismus. Dieses Sandkastengeplärre von Freiheit, Gesellschaft ohne Zwänge oder Herrschaft kann ich nicht mehr hören. Es ist für mich langsam zum kindlich, naiven Geblubber, das an allen Religionsunterschieden dieser Welt, allen Patriarchatsrealitäten und der Rente meiner Oma und meiner Mutter vorbeigeht, verkomnmen. Oh jetzt bin ich aber vom Thema abgekommen.  
FB@maynard: also lieber maynard, wenn es kein wirtschaftsachstum mehr gibt sind wir bei den Thesen von Kurz und der Gruppe krisis und der falschen/verkürzten Darstellung des "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate" des guten Kalle. Dagegen spricht die kapitalistische Dynamik alle 30 Jahre ein grosser technologischer Schub und alle 5/6 Jahre Konjunkturschübe. Thats capitalism. Inwieweit die "Arbeiterklasse" an den Schüben teilhat liegt dann letztendlich an den Kräfteverhältnissen und die sind momentan beschissen für die Klasse der Nichtbesitzer an Produktionsmitteln.  
Maynard: @ Fred: "Verantwortlicher Umgang mit beispielsweise Macht, Eigentum oder Lobbyismus"... Grossartig! Dazu fällt mir nur noch das bekannte Liebermann-Zitat ein ("... gar nicht so viel fressen, wie..."). Am "schönsten" ist natürlich der "verantwortungsvolle Umgang mit Lobbyismus". Wie stellt man sich den denn bei der F.D.P. so vor, gemeinhin? Ich meine: das liefe ja wohl auf einen "verantwortungsvollen Umgang" mit sich selbst hinaus. Und wenn Du das "Sandkastengeplärre" nicht mehr hören kannst, dann musst Du Dir wohl einen starken Führer suchen...  
Fred B.: an Mayhard: Oh nein, gerade wenn es keine 1-Mensch Machtkonzentration (der Führer) gibt, werden die verschieden Interessengruppen versuchen, ihre Sicht der Dinge oder Ziele mit Lobbymehrheiten durchzusetzen. (Beispielthema Hausgemeinschaften). Die größte Gruppe hat meist automatisch mehr Macht sich durchzusetzen. Wichtig ist, dass sie es eben nicht nur im eigenen Interesse tun, sondern VERANTWORTUNGSVOLL. Macht lässt sich nicht abschalten oder beseitigen, da es immer ein Gefälle zwischen verschiedenen Menschen geben wird. (Erwachsene sind Kindern gegenüber allein durch ihre Lebenserfahrung überlegen!) Macht lässt sich höchstens besser kontrollieren oder verantwortungsvoll einsetzen.  
Fred B.: an Mayhard(2): Unterschiedliche Wissenslevel (Beispiel: Ich spreche italienisch, Du nicht, wir sind in Rom.) machen mich unweigerlich zum Mächtigeren von uns beiden, ich kann Gesprächsthemen mit Einheimischen lenken u.s.w., Du nicht. Mein verantwortungsvoller Umgang mit meiner Macht, auch italienisch sprechen zu können, könnte es trotzdem einen schönen Urlaub werden lassen, ohne Führer ;-)  
twelfmonkyey12(**): interessant, mein vater sagte mir, mit der macht die ich und steffi (mein freundin) haben, ein kind zu machen, hätten wir auch die verantwortung, es groß zu ziehen.  
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testcard
Beiträge zur Popgeschichte
# 12: linke mythen
ventil verlag Juli 2003
305 Seiten 14,50 Euro
Verlagsseite des Buches
Linke Mythen

Wer "testcard" nicht kennt und sich für Popgeschichte nicht interessiert, dafür aber umso mehr für linksradikale Politik, der könnte vom Cover der neuesten Nr.12 fehlgeleitet werden. Hier geht es nicht um linke Mythen im Allgemeinen und auch nicht um den Mythos Che Guevara im Besonderen, hier geht es zunächst mal um Musik, "linke" Musik. Der Griff ins Regal könnte sich dennoch im Nachhinein als ein glücklicher herausstellen. Denn die über dreißig Beiträge zum linken Mythos in der Pop-Musik sind so vielschichtig und breit angelegt, dass auch der musikalisch gänzlich Unbedarfte auf seine Kosten kommt. So erübrigt sich eigentlich die Entschuldigung der Herausgeber, bestimmte Aspekte, wie z.B. die Feminismus-Debatte nicht berücksichtigt zu haben.

Konsequent wie das Vorhaben, dem Mythos nachzuspüren führt das Buch seine LeserInnen vom Naheliegenden (was hier das Bekanntere ist) zum Spezifischen (und Randständigen). Gerade letzteres ist erklärtes Ziel von testcard, eben nicht den Mainstream zu bedienen. So geht es mit den Scherben los, genauer gesagt mit einem Gespräch, in dem zwei ehemalige Schlagzeuger zu Wort kommen. Der Artikel leistet in seiner Kürze mehr als die larmoyante Filmdokumentation von Christoph Schuch (Der Traum ist aus, 2001). Denn hier wird kein neuer Mythos geschaffen, sondern offenen Herzens die Tragik deutlich gemacht, die ein Mythos, zumal ein linker, für die Beteiligten haben kann. Kürze und Überschaubarkeit zeichnen übrigens alle Artikel von testcard aus, von denen sich mehrere auch mit dem Mythos der RAF (u.a. ein Gespräch mit Irmgard Möller) oder dem der Befreiungsbewegungen wie Black Panther oder Rastafarie befassen. Auch ein Griff in die Rezeptionsgeschichte derer, die schon zeitlebens zum Mythos wurden, fehlt nicht. Was wurde aus Hanns Eislers Kampfliedern? In Zertrümmerung und Anverwandlung entmythologisiert und dadurch auf verschiedene Weise zu neuem Leben erweckt. Auch das macht den Mythos aus.

Zu einer kompetenten Beschreibung des Mythos gehört auch der Versuch, sich ihm von anderer Seite aus zu nähern. Das geschieht hier z.B. in dem Versuch, linke Perspektiven in der Avantgarde der 60er und 70er Jahre zu bestimmen. Oder in der Darstellung des Problems, das Linke mit der Ästhetik haben. (Ansprechende Plakate waren ja noch nie ihre Stärke.) Sogar über den Mythos des Freien Radios wird gesprochen. Doch zeigt sich spätestens hier, die Gefahr der Unternehmung: dass der Mythos doch manchmal zu sehr bemüht wird. Denn in dem Interview mit Andreas Stuhlmann vom Hamburger Freien Sender Kombinat wird nicht wirklich deutlich, was an einem freien Radio und der Forderung Brechts, das Radio möge zum Kommunikationsmittel werden, nun Mythos sein soll. Hier hat die Autorin nicht nachgefragt. Weshalb sich der Mangel an Selbstkritik des Befragten hinter seiner erklärten Kapitulation vor dem Mythos "frei" verstecken kann. Auch so können Mythen entstehen.

Und noch eine Kritik sei bei allem Lob für das Buch erlaubt: denn die Stärke der Artikel, vor allem auf den Nebenschauplätzen zu recherchieren, entpuppt sich zuweilen als Schwäche. Allzuoft verlieren sich die AutorInnen in Band-Namen und Benennungen von Styles; meinen, sie würden dadurch von ihren Lesern gleich verstanden; vergessen, dass es eben auch darum geht, das Schmale und Enge, das gerade die linksradikalen Aktionen charakterisiert, einem breiten Publikum verständlich zu machen. Eine lobende Ausnahme ist da ein Artikel, der trotz einer gehörigen Präsentation von Insiderwissen ganz plastisch die Philosophie von "Bad Religion" vor dem Hintergrund der Dialektik der Aufklärung beleuchtet. Was im kritischen Dialog mit dem Zeitgeist noch seine radikale Gültigkeit besitzt, kann sich schon Jahre später als Irrtum rausstellen. Und macht gespannt darauf, wie nachfolgende Zeiten das wieder bewerten.

Alles in allem ist testcard Nr.12 spannend und unterhaltend zugleich (was für linkstheoretische Erörterungen nicht selbstverständlich ist) und kann als praktische Quelle für weitere Recherchen dienen. Denn auch diesmal endet das Buch mit einem ausführlichen Rezensionsteil zu Büchern und Tonträgern, was immerhin fast ein Drittel des Ganzen ausmacht. Von Anfang bis Ende durchzieht ein roter Faden das Buch, der die (oftmals leidvolle) Differenz aufzeigt, die zwischen Anspruch (der KünstlerInnen oder politisch Agierenden) und Wirklichkeit entsteht. Aus dieser Differenz nährt sich der Mythos, hier erst entfaltet er seine Wirkungsgeschichte. So kann sich am Ende sogar noch eine "Lerneffekt" einstellen: dass der Mythos nicht in der (linken) Idee selbst angelegt ist, sondern vor allem auf dem Weg des Transportes der Idee entsteht, hier anschaulich gemacht an dem populären Medium Musik und der allgemeinen Verwertungsmentalität, auf die Musik trifft.

Baella van Baden-Babelsberg
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Hannes Sulzenbacher: Letzter Walzer

(Argument Pink Plot 126 Seiten) Der Gerechtigkeit halber sei gesagt: mich langweilen Klischees und Kriminalromane. Umso schlimmer, wenn beides zusammenkommt. Und: das Buch hält, was es in Cover und Klappentext verspricht. Es bietet nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ich hätte es also nicht zur Hand nehmen sollen.
Tat es aber dennoch. In der Hoffnung, das Klischee würde da und dort gebrochen und der Krimi werde so spannend, dass ich dranbleibe. Dass die Schwingungen zwischen Autor und Leser, vor allem wenn es um die Beschreibung von Gefühlen geht, manchmal nicht übereinstimmen, dafür können ja weder dieser noch jener etwas. Aber, um es mit Reich-Ranitzki zu sagen: das Buch ist ärrrrgerlich. Ärgerlich deshalb, weil sowohl die Idee, die dem ganzen zugrunde liegt, als auch ihre Umsetzung nicht wirklich originell sind. (Da hilft auch nicht, dass der Plot pink ist.) Und weil das Buch handwerklich schlecht ist.

Während des Wiener CSD also wird ein - natürlich blonder hübscher - Jüngling erschossen. Und weil der so hübsch ist, klinken sich neben der Polizei natürlich auch Homos in die Ermittlungen ein. Drei an der Zahl. Einer, der Protagonist, der im Rollstuhl sitzt (wir ahnen, das führt noch zu Schwierigkeiten am Set), einer der eine Tunte ist (Tunten haben natürlich Theaterallüren, weshalb diese auch am Theater arbeitet) und einer, der so normal und gutaussehend ist, dass man ihn nicht weiter beschreiben kann (und muss). Natürlich duldet der Kommissar neben sich keine Aufklärer. Natürlich führt die Spur - na wohin? - ins Strichermilieu und zur Boy-Hotline. Natürlich dann weiter in die Polit- und Promi-Szene und womit vergnügt man sich da, außer mit Strichern? Richtig, mit Koks. Erpressungen sind da naheliegend, oder? Apropos Koks: die Theaterszene hätte ich fast vergessen zu erwähnen. Und die Bösen, das sind die rechten Politiker, was im Falle Östereichs die Freiheitlichen sind. Der Showdown findet - wo? na - im Theater statt. Der Mörder ist auch ein Süßer, und bringt... nein, die Story verrate ich nicht, das wäre gemein. Nur soviel: Als hätte all das nicht gereicht entsteigt am Ende der Protagonist seinem Rollstuhl.

Wers jetzt immer noch nicht glauben will, hier eine kurze Kostprobe: Max (das ist der normale) (...) hatte einen doppelten Knoten in seine Krawatte und Grete (das ist die Tunte) stand auf, um ihn zu lösen und neu zu binden. "Du brauchst einmal eine gute Frau, das lass dir sagen". Max hob die Augenbrauen: "ich bin schwul, Grete". "Stimmt". Grete setzte sich wieder hin. "Dann bring dir bei, wie man eine Krawatte bindet".

Das ist auch kein Wiener Humor. Das kann kein Wiener Humor sein.

Baella van Baden-Babelsberg
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Joseph Hansen: Tyrannenmord

In dem schmalen Genre des schwulen Krimalromans wissen sich nur wenige Autoren zu behaupten. Zumeist postaufklärerische oder tumbe comig-out storys prägen die Sparte. Anders bei Joseph Hansen.

Das Projekt Pink Plot des Argument/Ariadne-Verlags nahm sich der Aufgabe an, die Dave Brandstetter- Serie von Joseph Hansen für die deutschsprachige Leserschaft in einer gründlichen Neuübersetzung wieder herauszugeben. In seinem vierten Fall ermittelt der schwule Versicherungdetektiv Brandstetter in der kalifornischen Kleinstadt La Caleta. Der örtliche Polizeichef Ben Orton, ein tyrannischer Vertreter von Recht und Ordnung und Hüter der wohlsituierten Schrebergartenidylle, wird erschlagen in seinem Haus aufgefunden. Der prompt verhaftete Hauptverdächtige ist in der reaktionäre Idylle dieses West-Küsten-Kaffs ein gesuchtes und gefundenes Opfer. Dass der rebellische Schwulenaktivist aus L.A. nicht der Täter sein kann, ist aufgrund der vagen Indizien offensichtlich. Die Reihe der Verdächtigen ist lang und bei der Rechersche stellt sich schnell heraus, dass Ben Orton weniger ehrenrührig war als er erschien.

Ein spannender Krimi mit einem überraschenden Plot. Die in den siebzigern geschriebenen Krimis von Hansen bieten einen interessanten Einblick in die schwule Kultur der Westküste dabei werden ebenso die Widersprüche schwuler Emanzipationsbewegung und die Anfänge der schwulen Bürgerrechtsbewegung dargestellt. Erfrischend ist die Kritik. Reflektion und Leidenschaft gehen eine hübsche Liaison mit dem schwulen Protagonisten ein. Damit hat der Argument/Ariadne Verlag neben den Michael-Nava- Krimis einen weiteren Klassiker des schwulen Krimanlromans für die deutschsprachige Leserschaft erschlossen.

Bodo Niendel
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AutorInnenkollektiv polymorph: "(K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive"

Das 264-seitige Werk (15,50€) bietet einen leicht verständlichen Einblick in die Diskussionen um Transgender. Das Interessante daran: Es ist zum Teil eine kontroverse Auseinandersetzung mit der Diskussion um Queer-Theory.

Das als Textsammlung herausgegebene Buch beleuchtet die Situation von transsexuellen Menschen. Gefangen in der zweigeschlechtlichen Matrix und der heterosexuellen Norm unterworfen, suchen und bestimmen Transsexuelle ihr Geschlecht. Die sich daraus logischerweise ergebende Diskussion driftet nicht in eine Betroffenheitslyrik ab, sondern zeigt subjektive Lösungstrategien von Transsexuellen und Transgenders. Der Konflikt entsteht für den einzelnen und bleibt letztendlich auch bei ihm, jeden Tag! Im wirklichen Leben haben Transsexuelle individuelle Probleme zu lösen, die eigentlich nur im Rahmen einer generellen Veränderung der gesellschaftlichen Normen zu lösen wären.

Kritisch wird auf die Diskussion um queer theory eingegangen, die - wie bei Judith Butler – den Wechsel in seiner performativen und/oder körperlichen Verfasstheit zum anderen Geschlecht als Rückbezug auf die zweigeschlechtliche Norm der Gesellschaft hinterfragt. Es wird der Versuch unternommen, die Falle von der "richtigen Theorie" versus der gelebten "falschen" Alltagspraxis zu vermeiden. Queer theory wird dabei nicht als Zeigefinger missbraucht, um die Normen und Identitäten von Transgenders anzuklagen, sondern um eine kritische Reflexion zu ermöglichen. Identitäre Selbstzuschreibungen von Transgenders und Transsexuellen werden im Rahmen eines aufschlussreichen Streitgesprächs debattiert. Insbesondere diese auflockernden Darstellungen und die Vorstellungen von künstlerischen Projekten machen den Sampler zu einem leicht lesbaren und erkenntnisreichen Buch. Die beschriebene jeweilige Alltagspraxis von Transsexuellen und Transgenders, sowie die Kritik der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Gesellschaft sind durchaus spannend aufbereitet. Ein lesenswertes Buch.

Bodo Niendel
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Moshe Zuckermann: Zweierlei Israel?

"Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann, Herrmann L. Gremliza und Volker Weiß" (140 S.; 12€)

Dieses Buch aus der Reihe "Konkret-Texte" beanwortet wichtige Fragen über Israel, den Staat und seine inneren Widersprüche, seine konfliktreiche Geschichte und mögliche Verlaufsformen. Moshe Zuckermann, Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, kann vor allem Antworten auf die intentionalen Fragen einiger deutscher Linker geben, die sich zu Recht oder Unrecht als Antideutsche bezeichnen.

Zuckermann gibt Einblicke in die israelische Gesellschaft. Scharf und beissend ist seine Kritik an der "ethnisch strukturierten Klassengesellschaft", am zionistischen Projekt eines jüdischen Staates und an der sich zunehmend nach rechts verschiebenden Hegemonie Israels. Statt von "den Juden" oder "den Palästinensern" zu reden versteht es Zuckermann – ganz Marxist - die Widersprüche in beiden Gesellschaften herauszuarbeiten. Die unmenschliche Sackgasse des permanenten Kriegszustandes ist ihm ein Greuel, angelegt in den auf Okkupation und jüdische Homogenität beharrenden politischen Strategien der israelischen Politik. Zuckermann arbeitet die Assymetrie des palästinensisch/israelischen Konflikts heraus, bei dem es weder den Palästinensern noch den arabischen Staaten möglich sein dürfte, die grösste Militärmacht des Nahen Ostens ins Meer zu treiben. Zugleich kritisiert er die vereinfachende Erzählung von den hilflosen palästinensischen Opfern als fetischisiert und instrumentalisiert, „bis die Rede vom Selbstmordattentäter in der palästinensichen Politik die große Kacke geworden ist, die sie ist“.

Immanent ist in Zuckermanns erfrischenden Auskünften Gramscis Gedanke vom Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Herzens enthalten. Um falsche Vereinnahmungen vorzubeugen, betont er grundsätzlich gegenüber Menschen, die das Existenzrecht Israels zur Disposition stellen möchten: "This is none of your damned bloody business".

In Anbetracht der von Unkenntnis und kruden Vereinfachungen geprägten Debatte der deutsche Linken über Israel kann man schlechterdings nur eins machen: dieses Buch grundweg empfehlen. Lest dieses Buch! Beteiligt Euch in ebenso di;stinensischen Opfern als fetischisiert und instrumentalisiert, „bis die Rede vom Selbstmordattentäter in der palästinensichen Politik die große Kacke geworden ist, die sie ist“.

Immanent ist in Zuckermanns erfrischenden Auskünften Gramscis Gedanke vom Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Herzens enthalten. Um falsche Vereinnahmungen vorzubeugen, betont er grundsätzlich gegenüber Menschen, die das Existenzrecht Israels zur Disposition stellen möchten: "This is none of your damned bloody business".

In Anbetracht der von Unkenntnis und kruden Vereinfachungen geprägten Debatte der deutsche Linken über Israel kann man schlechterdings nur eins machen: dieses Buch grundweg empfehlen. Lest dieses Buch! Beteiligt Euch in ebenso dialektischer Weise an der Diskussion, wie es dieses Buch tut.

Bodo Niendel
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