WIR SIND DEUTSCHLAND!
                                 ...eine Dialektyka


von Rocío Maria Sonado



«Jest dokladnie na odwrót! Es ist genau umgekehrt!»









«Jeder Dritte hier heißt doch Piotr Kowalski, so ähnlich wie bei euch in Deutschland Peter Schmidt.»









«Nicht Polen, sondern Deutschland. Nein zuerst Deutschland und dann Polen. Und später dann? Wer weiß das schon.»









«Das ist eine echte deutsch-polnische Liebesgeschichte, mit der wir das neue Jahrtausend einläuten.»









«In Deutschland
fühlt man sich geschmeichelt und freut sich über soviel positives Feedback. In Polen freut man sich auch. Über den Imageschaden, den Deutschland erleiden könnte ...»







"Slubice ist der schönere Teil von Frankfurt/Oder", sagt Piotr Kowalski und lacht, "deshalb sehen wir hier jeden Tag auf eine hässliche Seite von Deutschland." Der 27-jährige Pole ist Student an der Europa-Universität Viadrina. Seit Neuestem sitzt er ganz in der Nähe zu seiner Uni in einem eigenen kleinen Büro direkt an der Oder. Und fügt hinzu: "Aber eigentlich ist Deutschland doch der schönere Teil von Polen." Piotr Kowalski liebt das Spiel mit den Gegensätzen. "Dialektyka" nennt er das. "Jest dokladnie na odwrót!" Es ist genau umgekehrt!

Piotr Kowalski heißt eigentlich "Piuska". So jedenfalls nennen ihn hier alle. Das "Priesterkäppchen" ist zwar alles andere als fromm, aber auch das ist Teil seiner ganz persönlichen Dialektyka. "Piuska" bringe die zärtliche Seite seines sonst eher groben Charakters zum Ausdruck. Jest dokladnie na odwrót! Piuska übertreibt es gern ein bisschen und schiebt mit ernster Miene nach: "Jeder Dritte hier heißt doch Piotr Kowalski, so ähnlich wie bei euch in Deutschland Peter Schmidt."

Das Deutschland, von dem Piuska spricht, hat es ihm angetan. Natürlich ist es ein ganz bestimmtes Deutschland. Die Schwulen und Lesben seien dort so frei und ungezwungen. Und die Gesellschaft, ja, die habe auch ihre Vorurteile, aber damit würde man viel offener und ehrlicher umgehen. Wenn Piuska über Deutschland redet, könnte man vor Stolz erröten, oder vor Scham. Für ihn jedenfalls ist das Land jenseits der Oder ganz nah an seiner ganz persönlichen Utopie.

Im November vergangenen Jahres hat er deshalb eine Kampagne ins Leben gerufen, die ihn seiner Utopie noch etwas näher bringen soll. Jest dokladnie na odwrót! "Wir sind Deutschland!" Bis zum Jahr 2009 werde dieser Slogan hierzulande in aller Munde sein. Hierzulande, damit meint Piuska "nicht Polen, sondern Deutschland. Nein zuerst Deutschland und dann Polen. Und später dann? Wer weiß das schon". 2009 werde Stonewall vierzig Jahre alt und spätestens dann müsse endlich Schluss sein mit dieser krampfigen Motto-Suche. "Wir sind Deutschland!" sei das Fazit, so queer, queerer gehe es gar nicht mehr. Vor allem wenn es aus dem Mund eines Polen kommt. Piuska ist dann genau dreißg Jahre alt und "nur zehn Jahre jünger als der Aufstand, der damals alles in Bewegung brachte".

Über den genauen Plan, der das Motto in alle Welt tragen soll, übt sich der junge Pole allerdings noch in Stillschweigen. Ebenso darüber, wie er das Büro finanziert, das mit der Kampagne gegründet wurde. Alles, was darüber genauer in Erfahrung zu bringen wäre, wird peinlichst unter Verschluss gehalten. Grafiken und Text-Animationen gebe es schon, die komplette Roadmap, Foto-Shootings und Plakatentwürfe. Nur sei es eben noch nicht einsehbar. Weshalb die Türen zum Büro nur mit Geheimcode zu öffnen sind. Und über dem Eingangsportal eine kleine, kaum wahrnehmbare Kamera hängt. "Wir sind eine Werbeagentur, und eine Werbeagentur ist ein Hochsicherheitstrakt" sagt Piuska und schmunzelt schon wieder. Die Kommandozentrale der "Wir sind Deutschland!"-Agentur trägt das Kürzel WSDAG. Nicht schwer zu erraten, worauf das alles anspielen soll. Die Linken in Deutschland? Die neue Ich-AG? Nein, einfach eine Agentur.

entwurf 1: wsdag-kampagne

Vielleicht ist Piuska nur ein bisschen verrückt oder überdreht. Wie er so auf seinem schwarzen Ledersofa herumrutscht mit seinen zerschlissenen Jeans und den abgetragenen Nikes könnte er tatsächlich ein Werbe-Designer auf Koks sein. Oder ein erfolgreiches Model für H&M-Reklame. Ob er ein Träumer ist? Piuska streicht sich verlegen seine blonden Strähnen aus dem Gesicht und lächelt, was ein bisschen einstudiert wirkt. Er sei zunächst einmal ein diplomierter Kommunikations-Designer. Und an der Viadrina mache er jetzt den Master of Arts, Schwerpunkt: Wissen-Kommunikation-Gesellschaft. Thema der Abschlussarbeit: WSDAG - Projektierung einer Aufklärungskampagne mit Mitteln der frühen Kommunikationsguerilla. Das klinge zu kompliziert. WSD, das sei doch einfacher, WSD wie CSD.

Die Idee mit der WSD-Kampagne kam Piuska, als im vergangenen Jahr in Warschau der CSD verboten werden sollte und deutsche Politiker zur Unterstützung anreisten. "Damals dachte ich nur, wir sind jetzt Deutschland hier. Ein kleines Stück Land, in dem es Einigkeit und Recht und Freiheit für alle gibt." Deutschland sei für polnische Lesben und Schwule nicht nur eine Idee davon, sondern die reale Umsetzung, das rettende Ufer. Besonders Berlin, die Hauptstadt, stehe dafür. Mit ihrem schwulen Bürgermeister, der doch ganz gut aussehe. Und dem Parlament, das durch die vielen Schwestern bunter sei. Das alles sei doch auch lustig und sympathisch und könnte weltweit noch viel mehr vermarktet werden. Stattdessen, so Piuska, streite man jetzt über ein echt cooles Motto.

"Einigkeit und Recht und Freiheit" ist für Piotr Kowalski denn auch das beste CSD-Motto seit es Stonewall gibt. Dass es nun in "Verschiedenheit und Recht und Freiheit" abgeändert worden sei, spreche nur dafür, dass "er den Deutschen endlich mal Nachhilfe in Sachen Selbstbewußtsein geben müsse". "Wir sind Deutschland!" aus dem Mund von Lesben und Schwulen, die gar nicht mal selbst Deutsche sind, werde unglaubliche Synergieeffekte entwickeln. In zahlreichen Interviews mit Leuten aus der Szene und vor allem in ersten Gesprächen mit polnischen Politikern habe sich das schnell gezeigt. Die seien sehr viel moderater und differenzierter als angenommen.

"Wir sind Deutschland!", davon ist auch Thomas überzeugt, der "Tom aus Deutschland", der "Poller", an dem Piuska, die Fähre, auf der anderen Seite der Oder gerne immer wieder festmacht. Wie alle anderen Details der Kampagne soll auch er ein Geheimnis bleiben. Nur soviel: Tom sei ziemlich sexy. Sein liebster Freund und jego kotwica Niemczech, sein Anker in Deutschland und sein Geschäftspartner. In seinen schwarzen, knallengen Lederhosen ist Tom seinem Bleistift-Konterfei "Tom of Finnland" tatsächlich ziemlich ähnlich. Nur dass er "glücklicherweise keinen Schnauzbart trägt".

Ausgerechnet also in Polen, dem Land, in dem Lesben und Schwule mit dem Tod bedroht werden, das sich erst jüngst noch einmal ganz offiziell durch den Auftritt seines Präsidenten Kaczynski in Berlin extrem homofeindlich gegeben hat und in dem neuerdings schwule Lokale brutal geräumt werden, ausgerechnet also in Polen soll eine weltweite Homo-Werbe-Kampagne starten und dann noch mit dem Slogan "Wir sind Deutschland!"? Die Idee könnte absurder nicht sein. Schon wegen der Vorbehalte, die es auf beiden Seiten noch gibt.

"Das ist eine echte deutsch-polnische Liebesgeschichte, mit der wir das neue Jahrtausend einläuten", schmunzelt Piuska. "Eine Kampagne, die den "Warschauer Pakt 2006", die Tage der Toleranz im Juni in den Schatten stellen wird. Wir finden das toll und werden genau hinsehen, was dort weiter geschieht." Und was die Regierungen dies- und jenseits der Oder betreffe, so habe er schon bei der ersten Anfrage von beiden Seiten positive Signale erhalten. "In Deutschland fühlt man sich geschmeichelt und freut sich über soviel positives Feedback. In Polen freut man sich auch. Über den Imageschaden, den Deutschland erleiden könnte, wenn es in aller Welt plötzlich heißt, Deutschland sei das Land der Lesben und der Schwulen. Es ist eben immer genau umgekehrt. Jest dokladnie na odwrót!"



emily: na HERRlich - am doitschen wesen darf polen gnesen - "und morgen die ganze welt"? ob sich das merkel & co freuen werden? das beck sicher... immerhin fair, sowas hier zur debatte zu stellen - ob der lsvd ein "nie wieder doitschland" auf seine site gestellt hätte, darf wohlfeil bezweifelt werden. und bei allem inhaltlichen igitt: sensibel und differenziert beobachtet, präzise schreibe - wohltuend zu lesen!  
atömchen: na, doisches brauchtum am ersten april in alle cyberspaces zu exportieren ist auch nicht ungewagt  
Schwarz-Rot ohne Gold!: Die Lage der Lesben und Schwulen in Polen muss ja wirklich beschissen sein, wenn sie jetzt schon anfangen, deutsche Fähnchen als Freiheitssymbole zu schwenken. Das muss sich dringend ändern, damit unsere Brüder und Schwestern wieder auf vernünftigere Gedanken kommen. Nieder mit dem rechtskatholischen Mob und seinen Anführern in Polen (und in Rom)!  
ungenannt: Rocío Maria Sonado, auch wenn ich glaube, dass du das alte Radio auf neuer Frequenz bist, ein sehr schöner Bericht. Und etuxx lebt tatsächlich noch, freu freu ...  
Puccini: 27-April-2006 - 1000 Plakate mit "Willst du, dass die Anwohner von Krakau durch eine Manifestation der Homosexualität bedroht werden? / Stoppt die Verbreitung der Homosexualität" wurden in Krakau von der Gruppe "Towarzystwo Piotra Sakrgi" aufgehägt. Der Protest gilt dem "Festival der Toleranz", das ab heute dort 4 Tage stattfinden will.  http://www.queer.de/news
edith: dann wird es jetzt aber zeit, dass piuska seine gegenkampagne startet! wann kommt denn nun WSD endlich??  
Rocío Maria Sonado: Frau Doktor, jetzt auch Herr Doktor, kann als alte Salonlöwin ja das Salonieren nicht lassen und moderiert deshalb nun einen Salon der polnischen Liebe im Familiengarten im Hinterhof der Oranienstraße 34 am 13.5. ab 15 Uhr. Wir dürfen gespannt sein, ob zu den Üblichen Verdächtigen auch ganz Unüblich Unverdächtige erscheinen wollen (werden können).  
Tarnkäppchen: Dieser Salon war sehr angestrengt, doch zweisprachige Veranstaltung war sehr gut. Hätte aber besser vorbereitet werden müssen, da der Hauptvortrag simultan übersetzt musste, worunter viele rausgegangen waren. Schade. Und danke an die Übersetzer! Es fehlte außerdem die Sinnlichkeit. Salon ist Salon. Ist Salon. Aber es war dennoch eine spannend und notwendige Veranstaltung. Danke sehr.  
edith @ tarnkäppi: wie wahr!!  
hamburger: wie komme ich an diese infos? will auch nach warschau  
@hamburger: infos zu warschau und reise hin und zurück unter siegessäule und  www.smash-homophobia.de.vu
alex: Info an alle (bitte weiterleiten!) Bustickets nach warschau für 20 Euro! Klick unter www.smash-homophobia.de.vu