Sex ist wie kacken
von Noah Balthasar
(mit freundlicher Genehmigung des Magazins etuxx DUMMY, aus dem 2005er Herbst-Themen-Heft: JUDEN)
etuxx "Weißt Du, Darling", sagt Hagit, "der typische Israeli ist ungefähr so: ...". Sie schiebt die linke Schulter etwas vor und beugt sich leicht über die Bar, "Er sagt gleich zu Beginn: >Hey du, ich mag dich, ich mag dich ficken. Wollen wir ein oder zwei Drinks nehmen und dann ins Bett gehen?<" "Ach, ja?", sage ich und sehe, wie sich ihr Ausschnitt durch die Beugung vergrößert. Außerdem fallt ihr eine schwarze Locke ins Gesicht. "Manchmal will er auch ficken ohne die Drinks. ", sagt Hagits Freundin Adi. "Es geht wirklich nur ums Ficken, nicht um Liebe oder Verständnis oder so etwas."

Hagit hat diese hohen Wangenknochen, dunklen Augen, dichten braunen Haare und diese unendlich sanfte, tiefgründige Stimme. Sie ist orientalische Jüdin. Schauspielerin, Lehrerin, Barfrau - Israelin. Adi ist Vortänzerin in Tel Avivs größtem Technoclub, Russin, sieht ein wenig schlampig aus. Ori ist die Dritte im Bunde. Sie steht nur da und nickt. Heute haben mir die drei versprochen, in drei Tagen die Nuancen der jüdisch-israelischen Liebe zu erklären. Unverblümt. Klar. Hart. Israelisch. Regel Nummer eins: Alles ist überall mit allen möglich. Ein Betrug, ein Raub, ein Schuss, ein Schrei, ein Knall - oder ein Orgasmus. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Wahrscheinlichkeit, wann du was bekommst. Daher gilt: Stähle dich, glaube nichts, lebe jetzt, carpe diem, habe so viele Orgasmen wie möglich. "Das ist der Geist der Zeit", sagt Adi. "Hier zum Beispiel wollen mich alle", sagt Hagit und sieht sich um.

Wir stehen in einem Cafe mit freundlichen Lichterketten über den holz-getäfelten Wänden, ein paar Tischen und einer Buchenholzbar in Tel Aviv. Sie entfernt sich ein paar Schritte von uns, bleibt stehen, schaut verloren. Augenblicke später entsteht fast ein Gedränge. Fünf glutäugige orientalische Typen mit Polohemd und kurzrasiertem Schädel quatschen an, flirten. Weniger starke werden rude abgedrängt und beginnen mit mir zu fachsimpeln: "Ah, is this girl with you? She is goolish, man, I would have fucked her so bad, I would have fucked her so bad."

Ari heißt dieser dickliche Mensch, der mir auf die Schulter klopft. Soweit ich das beurteilen kann, ist sein Verhalten gegenüber Geschlechtsgenossen durchaus freundschaftlich gemeint und nicht etwa Zeichen besonderer Bösartigkeit. Er erzählt wie selbstverständlich vom Toilettensex, gestern mit einer rasierten verheirateten Professorin, davor mit einer Soldatin auf Urlaub. Die Toilette zeigt er mir auch gleich. Sie ist schön, verspiegelt, geräumig, unisex. In den Abfalleimern finden sich einige Kondome. Auf dem Deckel Koks-Spuren. Sie ergeben ein hübsches erratisches Muster. "Du findest das fast überall". Ari grinst. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel runter. Eva Illuz taucht in meiner Erinnerung auf. Die bekannte israelische Soziologin, Forscherin über die interkulturellen Konventionen der Liebe. Sie hatte mir vor zwei Tagen gesagt, dass westeuropäische oder amerikanische Rituale bei der Kontaktaufnahme und Werbung zwischen den Geschlechtern hier in Israel keine Rolle spielen. "Blumen, Antrage, Kinogehen und was für Schritte des Hofmachens sich in westlichen Gesellschaften über die bürgerlichen Jahrhunderte etabliert haben, hat die israelische Kultur nicht nur nicht übernommen. Sie wirken hier einfach lächerlich." Tatsächlich war mir die geringe Dichte an Blumenläden in Israel auch schon aufgefallen. Die israelische Gesellschaft sehe die Frau als gleichberechtigte Gefährtin und Soldatin, nicht als die bessere Hälfte, zu deren Warme und Sozialkompetenz der Mann nach dem harten Konkurrenzkampf auf dem kapitalisierten Arbeitsmarkt gern zurückkehrt. Da überrascht es wenig, dass die israelische Frau in ihren Gefühlen sehr männlich, weniger weich und liebenswert ist als in Amerika und Westeuropa. Romantik spielt keine Rolle. Sex ist Sex, hat weniger Bedeutung als Emotionsträger, wird biologischer gesehen. Oberflächlicher. "Sex ist mehr wie Essen, Trinken" - ich starre in die schwarzen, schon etwas angefaltelten Augen von Adi, der Vortänzerin - "oder wie Kacken." Adi muss ins TLV, den riesigen Techno-Club. Es gebe dort gutes "Crystal Coke", so wird Koks hier genannt. Ich solle einfach mitkommen. Ori nickt. Hagit mit den hohen Wangenknochen will nachkommen.

Die Straßen sind voll hupender Autos. Die Zeitungsständer zeigen Bilder von den jüngsten Selbstmordattentätern in Netanja. Adi stöckelt hoch-hackig mit kurzem Rockchen übers Pflaster. "Wir leben heute mit dem Terror, you know. Er hat die Sicherheitsbestimmungen und die Leit-Droge verändert. Das wars dann auch."

Vor Beginn der letzten Intifada gab es Ecstasy, heute nur noch Kokain, sagt sie. Das aber in rauhen Mengen. In die Clubs kommt es in kleinen Tütchen, die die Madchen in Höschen und/oder Wonderbras durch die Kontrollen schmuggeln. Über die verchromten Abfalleimerdeckel der Toiletten gelangt es in die Nasen einer ganzen Generation von 20-bis 39-Jahrigen und erzeugt Gefühle von Macht und Unverletzlichkeit, die hervorragend korrespondieren mit den gestählten Körpern der Bodybuilding-Welle, die Israel seit Beginn der zweiten Intifada überrollt. "I like those bodies, an denen hart gearbeitet wurde". Adi hat beim Lachen den Mund weit offen. Ein paar Zähne sind schlecht, das Zahnfleisch sitzt ein wenig hoch. Im TLV wummern die Beats. In einem Hinterzimmer des Clubs ziehen wir auf einem Glas-Tisch Lines mit dem Koks aus dem Vorrat in Adis Büstenhalter. Die Luft im Dance-floor ist heiß. Unsere Köpfe cool. Die Toiletten werden frequentiert. Unisex. Auf einer schläft ein Typ mit einem Kondom über dem Schwanz. Die Zeit verrauscht.

Ich denke an eine Kuratorin von Jad Vashem. "Das Konzept des New Jew", hatte sie gesagt, sei gesellschaftsprägend bis heute. Der >Neue Jude< war in den 40ern bis weit in die 80er hinein das Äquivalent zum >Neuen Menschen< des Sozialismus. Er baute die jüdische Gesellschaft auf, als strahlender Pionier der Kibbuze, war frei in der Liebe. Im Unterschied zum Bild des >alten Juden< der Gettos war er nicht verschwiemelt, geduckt, geschlagen, vergrübelt und verängstigt, sondern stark und wehrhaft. Vor allem schieße er, wenn nötig, zuerst und zeige niemals Schwäche.

Soldaten weinen nicht in Israel, niemals, nicht im Fernsehen, nicht auf Fotos, vielleicht auch nicht zu Hause. Das ist gleich geblieben über die Jahrzehnte, wenngleich das Pathos des Aufbaus verloren ging, ersetzt durch das Bild des Kämpfers in einem Meer von Feinden. Der neu-jüdische Kämpfer wird bedroht von den arabischen Nachbarn außen, den nicht-jüdischen Bewohnern des Landes innen, den Traumata des Holocaust, denen des Terrors, von Auswanderung und der demografischen Entwicklung.

Der Druck auf die nachwachsende Generation ist enorm. "Es ist eine Generation, der man die Jugend genommen hat", sagt Ruth Pat-Ho-renczyk vom Zentrum für Traumaforschung in Jerusalem "ohne ihr eine Vision zu geben". Sie reagiere mit religiöser Ideologisierung, mit Angststörungen, Verdrängung oder hemmungslosem Konsumrausch. Kann man so was lieben, frage ich mich.

"Ich habe die letzten Jahre keinen Partner gefunden, mit dem ich mein Leben verbringen möchte", sagt die stille Ori draußen vor dem Club am Ufer des Jarkon vor der in der Feme grün und rot blinkenden Müllverbrennungsanlage Tel Avivs. Hinter uns wummert der Club. Vor uns, am anderen Ufer, sind einige selbstgezimmerte Hütten von armen arbeitslosen oder illegalen Familien. Betttücher trocknen auf der Wäscheleine. "Ein Kind wollte ich trotzdem - ich fühlte mich sonst nicht als vollwertige Frau. Daher bin ich nach Griechenland in Urlaub gefahren, und ... Es gibt viele, die das tun, im Urlaub ins Ausland, die Pille absetzen, sich verlieben, ein Kind bekommen, damit allein nach Israel zurückkehren."

Ori zeigt ihre blendend weißen Zahne, ihre Lippen sind voll, sie streicht die gelockten dunkelblonden Haare zurück und ist voller Mutterglück. "Ausländische Nicht-Juden haben in Israel kein Bleiberecht. Andere machen es auch so mit israelischen Männern, aber das ist schwieriger, weil das Land so klein ist und der spätere Kontakt mit den Vätern dann wahrscheinlicher wird. Das ist vielen zu kompliziert. Für die, die keine Männer, aber Kinder haben und auch planungstechnisch auf Nummer sicher gehen wollen, gibt es dann noch vom Staat finanzierte Samenbanken." Ori legt die Arme um sich selbst und schuckelt ein bisschen im Ufersand. Nachdenklich. Der Kies knirscht leise. Die Sonne geht auf.

Wir gehen auf eine Chillout-Party irgendwo im Norden von Tel Aviv, wo elf schweigende Menschen um einen Couchtisch sitzen. Ein ganzer Teller Koks dreht seine Runden. Dort treffen wir Hagit wieder mit den schonen Wangenknochen. Sie stehe nicht so auf orientalische Männer, sagt sie und schaut mich verloren an. Auch Koks sei nicht ihre Sache. Ich glaube, sie verliebt sich in mich - und ich mich in sie. Irgendwie komme ich weg, schlafe 48 Stunden, rufe das Gesundheitsministerium an, die Samenbanken und Eva Illuz, die Soziologin. Ja, es stimmt: Samen gibt es in Israel für jede interessierte Frau. 15.000 Frauen werden so auf diese Weise jedes Jahr schwanger. 15 mal mehr als in Deutschland. So viele, dass schon jetzt diskutiert wird, wie man spätere eventuelle Inzucht zwischen Halbgeschwistern, die sich nicht kennen, verhindern kann. Die favorisierte Lösung klingt wie aus einem Science Fiction-Roman: Eine Geheimdatei soll verschlüsselte Informationen über den Vater enthalten. Will ein Pärchen heiraten, gleicht der Rabbiner mit diesen Daten ab, ob sie nicht vielleicht verwandt sind. Je nachdem erteilt er seine Erlaubnis zur Heirat oder nicht. Die Kosten von 140 Dollar für die Samen werden von der Krankenkasse übernommen. Auch lesbische Frauen erhalten so eine einfache Möglichkeit, sich fortzupflanzen. "Nichts ist in Israel so schlimm wie Kinderlosigkeit," sagt die Soziologin Illuz. "Eine Frau ist nicht vollkommen, wenn sie nicht wenigstens zwei Kinder hat." Staat und Gesellschaft tun alles, um die Geburten anzuregen - von der regelmäßigen Veröffentlichung von Populationszahlen der Juden der Welt über Samenbanken, Forderung der Genforschung, Invitro-Fertilisation, Leihmutterschaften für unfruchtbare oder schwule Paare reichen die praktizierten Methoden. Israel hat mittlerweile die höchste Geburtenrate pro Frau von allen westlich orientierten Ländern. "Es sind brachiale Methoden manchmal, die Westeuropäer nicht verstehen, aber wir sind so wenige. Und wir wollen nicht verschwinden. Probleme mit überalternden Gesellschaften haben wir hier jedenfalls nicht."

Mit Hagit, der Schönen mit den hohen Wangenknochen und der samtenen Stimme, habe ich dann drei Tage später geschlafen. Ein Jahr später waren wir verheiratet. Ein weiteres Jahr später wurde die Scheidung eingereicht. Wahrscheinlich war es die Eifersucht. Die schöne Jüdin marokkanischer Herkunft hatte nie daran geglaubt, dass man in Deutschland nicht mit jeder Dahergelaufenen auf der Toilette vögelt.


Anand X.: Das ist ja schön & Libertinage rulez o.k. - aber mit Nachwuchs (wie im "Appetizer" auf der etuxx-Titelseite suggeriert) hat das dann ja wohl doch nicht so viel zu tun. Die israelischen Familien mit einer in's Zweistellige gehenden Kinderzahl sind nahezu ausnahmslos Ultraorthodoxe, die sich, massiv vom Staat subventioniert, jeder vernünftigen Politik in den Weg stellen und deren Existenzauffassung durchaus als Bigotterie pur bezeichnet werden kann. Der diesem Text implizite Vorschlag: Vögelt wild durch die Gegend, dann kriegen wir das nebenbei mit der Geburtenrate auch noch hin, erscheint mir schwerstens grotesk.  
Simon: Ein sehr schöner Artikel, der dieser Überfrachtung die Sex gerne beigemessen wird, mal andere Modelle entgegensetzt. Von den ultraorthodoxen Haaren, die Anand X. in der Suppe gefunden haben will, habe ich nichts gelesen.  Infos statt ultraorthodoxes Pöbeln
Anand X.: Simon, kann es sein, dass Du meine Anmerkung entweder a) nicht richtig gelesen oder b) nicht recht verstanden oder gar c) bewusst verdreht hast? Ah ja.  
Asan: nur lernt der Israeli nicht, daß andere seine sexuelle Befreiung nicht ganz so toll finden. Die Wahrnehmung des Touri-Israeli ist doch eher ähnlich der des deutschen Ballermanntouristen, speziell in Asien  
sven: sex ist wie kacken!!! ruft mich an 02944/2921 ich beweis es