AIDS in KOLUMBIEN
Text und Bilder von Markus Plate, Nachrichtenpool Lateinamerika npla



"Erzählt den Leuten dort in Deutschland, dass nicht alles in Kolumbien schlecht ist. Dass es nicht nur Drogen, Guerilla und Paramilitärs gibt. Sondern auch Menschen, die über die Kultur und von ganz unten probieren, die Situation zu verändern. Und die Stück für Stück dazu beitragen, diese Scheisse namens Kolumbien weiter zu bringen."

John Jota von der Hiphop-Band Zona Marginal



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In Galerias, dem Barrio, dem Flüchtlingsviertel, fehlt es an allem. Feste Jobs sind eine Rarität, Gesundheitsversorgung gibt es nicht und die kleine Schule finanziert sich nur durch Spenden. Viele Bewohner sind vor der Gewalt auf dem Land geflohen und werden auch hier von Armee und Polizei drangsaliert. Keine Chance auf Arbeit, die tägliche Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Marginalisierung, komplette Vernachlässigung durch den Staat. Hunderttausende leben allein in Cali so, Millionen in ganz Kolumbien. Und als wäre das alles noch nicht genug, sehen sich die Menschen einer neuen Bedrohung entgegen: In den Barrios grassiert AIDS.

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Herman Carmarro hat schon vor 11 Jahren die Organisation DASFE gegründet, die mit bescheidensten Mitteln Präventionsarbeit in den Barrios leistet und AIDS-Kranke versorgt.

"Wir sind in Santa Elena, nur drei Straßen vom Barrio Galerias entfernt, ein sehr armes und sehr schwieriges Viertel. Die Lage in den Barrios ist allgemein sehr ernst. Es gibt viel Unwissenheit und Ignoranz. Zum Beispiel wenn man über eine Frau hört, dass sie HIV haben soll, wird sie sofort als billige Prostituierte abgestempelt, die mit jedem schläft. Die Menschen wissen nicht, wie sie sich schützen können. Viel wissen nicht einmal, wie man ein Kondom benutzt."

Dass die Armenviertel der Epidemie fast schutzlos ausgeliefert sind, weiß auch Hermán Muñoz Sanchez. Hermán ist Soziologe an der Universität Antióquia in Medellín, der zweitgrößten Stadt des Landes. Er engagiert sich an mehreren Fronten im Kampf gegen AIDS:

"Ich sehe einen starken Zusammenhang zwischen der Armut, der Marginalisierung und der Diskriminierung mit HIV/AIDS. Wenn wir von Armut reden: Es gibt junge Männer, die sich in den Bordellen der Stadt prostituieren, um damit ihre Familie zu ernähren - auch obwohl sie eine Job zum Beispiel in einer Fabrik haben. Und das meint nicht nur eine Freundin und ein Kind, sondern auch den Papa und die Mama und die Geschwister, die in sehr schutzlosen und armen Verhältnissen leben. Ich sehe ein Land, eine Region mit großer Armut, wo viele Möglichkeiten fehlen, vor allem für die Jugendlichen. Und hier gibt es eine Verbindung. Wenn ich etwas benötige, wenn ich Hunger habe, dann verkaufe ich meinen Körper. Das heißt nicht, dass ich nicht arbeiten will, sondern, dass es keine Möglichkeiten gibt. Das heißt nicht, dass ich nicht studieren will, sondern dass ich nicht kann."

policia

Die Lage in Medellín gleicht der in Cali. Bis zu drei Millionen Binnenflüchtlinge, Desplazados, soll es in Kolumbien geben. Nach Medellín, der Hauptstadt der Provinz Antióquia, sind besonders viele Menschen geflohen - aus den Regionen im Osten und Norden der Provinz, in denen sich Guerillagruppen und Armee bekämpfen und wo der paramilitärische Terror wütet. Hinzu kommen überwiegend indigene afrokolumbianische Flüchtlinge aus dem Chocó, wo ganze Dörfer im Auftrag von Bodenspekulanten vertrieben oder massakriert werden. Der Epidemiologe Franklin Prieto vom Nationalen Gesundheitsinstitut bestätigt, dass sich AIDS aus Kolumbien längst aus den klassischen Risikogruppen "männliche Homosexuelle" und Prostituierte herausbewegt hat:

"Neben den bekannten Risikogruppen gibt es in Kolumbien weitere gefährtdete Bevölkerungsteile: Die indigenen Gruppen zum Beispiel. Und dann die Desplazados. Sie sind besonders gefährdet, weil sie aus entlegenen ländlichen Gebieten in die großen urbanen Zonen fliehen. Die Präventionskampagnen des Staates haben diese Gruppen bislang kaum erreicht und es ist äußerst schwierig, bestehende Kampagnen auf diese Gruppen anzupassen. Wir reden von marginalisierten Gruppen, die in den Städten Ghettos bilden. Hier sind sie besonders verwundbar, auch weil sie Kontakt mit der weißen Bevölkerung aufnehmen. Viele Frauen betätigen sich als Sexarbeiterinnen und das erleichtert die Ausbreitung der Epidemie."

Gerade innerhalb der marginalisierten Bevölkerung verjüngt und feminisiert sich die Epidemie. Das heißt, immer mehr Kinder und Frauen sind betroffen. Dabei wird AIDS in den Armenvierteln längst nicht immer diagnostiziert - der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist einem Großteil der Kolumbianer verwehrt. Doch selbst wenn die Diagnose da ist und selbst wenn es Medikamente gibt, werden diese nicht unbedingt genommen: Franklin Prieto über ein verbreitetes Phänomen:

"Viele Patienten, die Medikamente erhalten, verkaufen sie! Es gibt einen Schwarzmarkt für AIDS-Medikamente. Viele Menschen erhalten glücklicherweise Medikamente, aber sie haben nichts zum Leben, weil sie keine Arbeit haben. Die Tatsache, dass sie Medikamente bekommen, führt unter solchen Umständen also nicht zur Verbesserung ihrer Lebensqualität."

Der Verkauf von AIDS-Medikamenten hilft der Familie in den Barrios zu überleben! Aber AIDS ist nicht auf die großen Städte konzentriert. Der Virus hat Wirte gefunden, die überall im Land operieren und ihn so in die entlegensten Winkel des Landes tragen:

"Als gefährdete Gruppen haben wir auch das Militär und die Polizei und auf der anderen Seite die Guerilla und die paramilitärischen Gruppen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass es innerhalb der Guerilla eine große Zahl an HIV-Fällen gibt. Das gilt mindestens genauso für das Militär. Polizei und Armee, Guerilla und Paramilitärs haben Kontakt zu den Indígenas, Kontakt zur schwarzen Bevölkerung, Kontakt zu den Desplazados, Kontakt zu SexarbeiterInnen und auch homosexuelle Kontakte."

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Was Franklin Prieto wissenschaftlich neutral als "Kontakt" bezeichnet, ist oft genug Teil der Greueltaten, die Militär, Guerilla und Paramilitärs an der Zivilbevölkerung begehen. Neben Massakern sind das auch systematische Vergewaltigungen an Frauen. Innerhalb der bewaffneten Gruppen sind zudem homosexuelle Abenteuer kein Novum - auch wenn Paramilitärs Schwule Aktivisten öffentlich als militärisches Ziel definieren. Homosexualität und Uniform ist aber bei keinem Akteur vereinbar. Und HIV haben immer die anderen, vor denen man sich schützen muss. Die FARC, die größte und älteste Guerilla Lateinamerikas, hatte vor fünf Jahren eine Zone zu gesprochen bekommen aus der sich der Staat als Vorleistung für Friedensgespräche zurückgezogen hatte. Der Menschenrechtsaktivist Alvaro Miguel Rivera über den Umgang der FARC mit HIV:

"Wir hatten eine NGO, die sich innerhalb der Zone um Menschenrechte und um HIV-Prävention kümmerte. Dazu haben wir in der gesamten Zone ermittelt. In den Jahren 2000/2002 hat die Guerilla, haben die FARC in der ihnen zugesprochenen Zone HIV-die Bevölkerung gezwungen, sich auf HIV testen zu lassen. Und die Menschen, bei den HIV festgestellt wurde, haben sie gezwungen die Zone zu verlassen. Und die, die nicht gehen wollten, haben sie getötet. Die Menschen mussten sich in eine Reihe stellen, sie mussten diese Schnell-Tests bezahlen. Dann haben sie die Blutprobe genommen und je nach dem ob das Ergebnis negativ oder positiv war, haben sie den Leuten ein Papier gegeben oder sie aufgefordert, die Zone innerhalb 24 Stunden zu verlassen."

Die Vertreibung von HIV-positiven ist keine Lösung aber auch kein Einzelfall! Doch was kann man tun, um AIDS in dieser Situation aus Armut, Diskriminierung und Gewalt zu begegnen? Eines ist klar: Bei befürchteten 300.000 Infizierten ist HIV/AIDS nicht nur ein Gesundheitsproblem, dem mit Prävention und Medikamenten zu begegnen wäre. Wenn ein Kondom mehr kostet als eine Mahlzeit und Medikamente verkauft werden. AIDS ist ein Ausdruck des Jahrzehnte dauernden Konflikts und der noch länger währenden gesellschaftlichen Probleme Kolumbiens. Auch schwulen Aktivisten wie der Anwalt German Rincon Perfetti ist klar geworden, dass nur ein Frieden und eine tiefgreifende Umgestaltung der Gesellschaft die Voraussetzungen schafft, die Epidemie wirksam zu bekämpfen. Er ist Mitbegründer des Projektes Planetapaz:

"Das Projekt, was wir entworfen haben, wird vor allem von der Europäischen Union und Norwegen finanziert. Es ist gut ausgestattet und erlaubt es uns zunächst in drei Jahren 14 soziale Sektoren einzubeziehen, Gewerkschaften, Frauen, Indígenas, Afrokolumbianer, Solidaritätsbewegungen, alternative Medien, Bauern, Künstler, Umweltschützer und als historischer Moment auch den Sektor der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender."

demo in kolumbien

Dass sich Schwule in Kolumbien für soziale Gerechtigkeit engagieren, ist in Kolumbien keine Selbstverständlichkeit. Das sei erst durch AIDS gekommen, meint German:

"Ich glaube dank AIDS sind die Homosexuellen in Kolumbien sichtbarer geworden. Eine Schwierigkeit, die sich in einen Vorteil verwandelt hat. Zum einen, weil es uns mit anderen Organisationen und Sektoren verbunden hat, für die wir vorher unsichtbar waren. Die Gewerkschaften zum Beispiel, die gegenüber den Homosexuellen immer eine unglaublich akademischen Diskurs gefahren haben. Und auf der anderen Seite haben sich die Schwulen sehr selten um Sachen wie den Frieden gekümmert."

Das soll sich nun ändern: Gut situierte Schwule mischen bei sozialen Prozessen plötzlich kräftig mit. Unterstützen aktiv Kandidaturen gegen das Lager des aktuellen Präsidenten Alvaro Uribe Vélez, der das Land unter dem Vorwand der Drogen und Terrorismusbekämpfung immer stärker militarisiert hat. Die Politik soll nicht mehr den traditionellen Eliten und bewaffneten Akteuren überlassen werden.

"Zunächst einmal wollen wir gehört und mit einbezogen werden: Bei allen Friedensverhandlungen waren bisher nur die bewaffneten Gruppen beteiligt, die eine große wirtschaftliche, politische und militärische Macht besitzen, die Paramilitärs zum Beispiel und der Staat. Aber die Zivilgesellschaft ist nicht dabei. Also sagen wir: Wir sind hier, auch wir haben eine Meinung. Auch wir haben unsere Vorschläge bezüglich eines Friedens in Kolumbien und wir wollen gehört und beteiligt werden. Das gilt auch, wenn es um solch folgenschwere Entscheidungen geht wie um das Freihandelsabkommen, das uns kulturell und sozial schwer treffen wird. Wenn es um die Landfrage geht oder um die Diskriminierung der afrokolumbianischen Bevölkerung. Wenn es um die Armut geht oder um die Ernährungssicherheit. Und wir als Schwule müssen über unseren Tellerrand hinausschauen. Einfach nur zu sagen, ich werde ja so diskriminiert, ich Armer, das reicht nicht. Wir müssen uns mehr kümmern, aber nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Sektoren. Wir alle zusammen müssen eine Gemeinschaft konstruieren. Und das ist ein höchst interessanter Prozess. Die Möglichkeit, aus der Homosexualität auszubrechen um beim Aufbau der Gesellschaft zu helfen, ein solcher Prozess ist absolut göttlich."

Auch wenn der Krieg in Kolumbien mehr denn je tobt. Es gibt Initiativen wie Planetapaz oder die vielen Organisationen wie DASFE im Barrio Galerias in Cali. All die, die sich für den Frieden engagieren, verdienen Unterstützung. Das gibt uns John Jota von der Hiphop-Band Zona Marginal auf den Weg, als wir das Barrio in Cali verlassen:

"Erzählt den Leuten dort in Deutschland, dass nicht alles in Kolumbien schlecht ist. Dass es nicht nur Drogen, Guerilla und Paramilitärs gibt. Sondern auch Menschen, die über die Kultur und von ganz unten probieren, die Situation zu verändern. Und die Stück für Stück dazu beitragen, diese Scheisse namens Kolumbien weiter zu bringen."

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radi.OA.ton: AIDS in Lateinamerika jetzt auch hörbar: AIDS in Kolumbien, Brasilien und Kuba. In Mexiko sind es immer mehr die Frauen, die von AIDS betroffen sind. (29:40 Min.) Musik zum Thema kommt von der argentinischen Band El otro Yo, von Yerba Buena und Lenine, von den kubanischen Orishas, Black Doit aus Frankreich, von Astrid Hadad aus Mexico und Hijo de Prodigo aus Spanien. Unterhaltsam und informativ. Schalte um zu  ondainfo97
antivölkischer Beobachter: Täusche ich mich oder waren hier vor ein paar Tagen noch mehr Diskussionsbeiträge?  
Robert M.: du täuscht dich, jedenfalls wüßte ich nicht was.  
radi.OA.ton: kann beglaubigen, daß hier keine weiteren einträge waren, bevor radi.OA.ton seinen hinweis eintrug. vielleicht hatte der antivölkische beobachter ja einen beitrag im kopf, den er nur vergaß, hier abzusetzen. das würde seine verwirrung erklären. aber er kann es ja noch nachholen, sofern es der sache dient :-)  
antivölkischer Beobachter: Ja, so war es wohl. Leider hab' ich auch den vorgesehenen Beitrag vergessen. Vielleicht wollte ich nur mein Entsetzen darüber zum Ausdruck bringen, dass die Polizisten Robocop jetzt immer ähnlicher werden. Dass Polizei bei Demonstrationen anwesend ist, kann ja in bestimmten Fällen durchaus Sinn machen. Aber die optische Erscheinung dieser Einheiten, die ja in Deutschland nicht viel anders aussehen, empfinde ich persönlich als Androhung von Gewalt. Widerlich.  
OA: Wo das Volk immer ärmer wird, wachsen zwangsläufig die Mittel und Werkzeuge der Repression. Insofern ist die Ausstattung des gemeinen Volkspolizisten, genauer gesagt die Mutation des Polizeibeamten zum Kampfroboter ein wichtiger, weil deutlich sichtbarer Indikator dafür, wie es um Reichtum und Armut der Bevölkerung eines Landes bestellt ist. In Deutschalnd gibt es diese schwarzen Kampfeinheiten ja noch nicht solange. Dass dieses faschistoide Erscheinungsbild öffentlich geduldet wird und immer mehr zur Normalität im Straßenbild wird, ist ein Skandal mehr, über den niemand spricht. Kolumbien ist da nur um die Ecke.  
antivölkischer Beobachter: Dass sich dieses Auftreten explizit gegen aufbegehrende Unterschichten richtet, bezweifle ich. Zumindest bei den Montagsdemos hierzulande werden (wurden?) doch die herkömmlichen Freunde und Helfer als "Begleitschutz" eingesetzt. Ich würde das eher als Instrument der Abschreckung betrachten, dass gezielt bei Demonstrationen eingesetzt wird, die politisch besonders unerwünscht sind. Eine Demonstration sucht Öffentlichkeit, massive und martialische Polizeipräsenz verhindert Öffentlichkeit. Das in etwa meint auch  Wolf-Dieter Narr in der Jungle World.