Damit ich Dich fressen kann!
über aggressive Sexualfantasien, die ewige Lust am Gruseln, den Oblaten, die als Leib Christi verspeist werden und andere Kannibalengeschichten.

Schaudriges für Winterabende von Robert M.


"Damit ich Dich fressen kann!" antwortet der Wolf Rotkäppchen auf die Frage nach den großen Zähnen respektive dem großen Maul. Schon im frühen Kindesalter werden wir intensiv auf die Abgründe der menschlichen Triebe vorbereitet. Das über ziemlich alle Religionen und Kulturen geltende Kannibalismustabu muss nur all zu oft herhalten, um das Böse schemenhaft zu umreißen bzw. den (fremden) Feind als Monster zu skizzieren. In seiner Steigerungsform sind es immer auch die zu beschützenden Kinder, die gefressen würden. Auch die Naziproganda dichtete "dem Russen" beispielsweise solche Eigenschaften an, um ihn als "natürlichen Feind" verhasst zu machen. Die emotionalen Grundlagen dafür bieten unter anderem auch die Schauergeschichten von Hänsel und Gretel, oder Rotkäppchen. Analoge "Best of Omas Gruselschocker" mit regionalen Abwandlungen gibt's fast überall.

Doch kommen wir zurück in den Winter 2003/2004. Dass sich sexuelle Lust und Fantasie mit quasi allem füttern lässt und vor gesellschaftlichen, religiösen oder sonstigen Tabus nicht halt macht, sondern sich daraus zum Teil reichlich bedient, ist die Erkenntnis, die die ewigen Weiten des Internets oder die darkesten Darkrooms bereithalten, so man es denn will: SM-Pornoträume à la "New Yorks Cops kennen keine Gnade" oder
  
"Moskaus Sexsklaven - wie Käfighaltung sie gefügig macht" (erfundene Titel) fänden sicher reißenden Absatz. Und Kinohits "Fight Club" und "8mm" erzählten von noch ganzen anderen pervertierten Wünschen. In den "harten Sex-Stuben" unserer Großstadt-Nachbarschaft gibt es von der Zigarettenglut bis zur Rasierklinge, von der Peitsche bis zur Kanüle alles. Die Reihe ließe sich schier unendlich mit diversen Sex- und Fetischspielarten erweitern. Eine aufgeschlossene, moderne, libertäre Gesellschaft billigt, meist nur etwas erstaunt, ziemlich alles, was in gegenseitigem Einvernehmen stattfindet und wobei niemand stirbt. Vorausgesetzt ist allerdings, dass Mann oder Frau zur freien Willensbekundung in der Lage sind. Kinder sind aus gutem Grund von dieser sexuellen Freiheit ausgenommen.

Als 2002 kurz vor Weihnachten die Nachricht von Armin M. bekannt wurde, dass er in gegenseitigem Einvernehmen seinem Gegenüber erst vor laufender Kamera den Schwanz abschnitt, den vor den Augen des Beschnittenen verspeiste, um eben jenen dann zu Ende zu schlachten, um ihn später wie versprochen - erst tiefgefroren - stückweise aufzuessen, wurde diese Nachrichten zwar von vielen als halsschreierische Boulevardnews degradiert und deklassiert, doch gelesen haben sie die meisten dann doch. Eine Frau würde er niemals verspeisen wollen, sagte der Festgenommene. Ist das ganze am Ende nur eine sehr seltene homoerotische Facette menschlichen Sexlebens?

Der Gruselreiz, mit dem nicht nur im Märchen gespielt wird, sondern auch in kassenfüllenden Breitwand- Fiktionen ("Der Koch, der Dieb, seine Frau und sein Liebhaber", "Das Schweigen der Lämmer", "Delicatessen"), war auf einmal real, und sogar quasi nebenan. Tausende spielen im Internet virtuell mit der Fantasie der völligen Selbstaufgabe, des physischen Einverleibtwerdens, bzw. einen Menschen zu schlachten, sich seines vollkommen zu bemächtigen, ihn zu "verinnerlichen". Das wusste zumindest das den Rothenburger Kannibalismusfall begleitende Feuilleton herausgefunden zu haben. Wieviel davon allerdings Hirnwichse in Form von fantasierter Cybersexualität ist und wieviel wirkliche Todes- und Tötungswunsch, blieben jene reflexiven Kulturessays uns schuldig.

Das Internet bietet mehr oder minder anonym die Möglichkeit, Fantasien virtuell auszuleben, die in der Realität durch einen eigenen korrigierenden Faktor niemals stattfindenden würden. Die Gedanken sind frei. Problematisch ist der Fakt, dass - je mehr sich in eine Scheinwelt hineingesteigert und je mehr die Fantasie durch ein adäquates Cybergegenüber angeheizt wird, desto stärker kann der Wunsch nach Wirklichkeit werden. (Die Computer-Kriegsspiel-Hysterie beruht auf den gleichen Annahmen.) Weiterhin ist die Kontaktmaschine Internet bestens geeignet, um Menschen mit den abwegigsten Liebhabereien zumindest theoretisch mit wenigen Mausklicks bis zum ersten Kontakt zu führen.

Zurück zur Menschenfresserei, an sich und im Allgemeinen. Kannibalismus ist durchaus als menschliche Überlebensstrategie in Notsituationen in Kriegen, bei Belagerungen oder aus Segelschifffahrt usw. bekannt. Schiere Not durchbricht das sehr zarte Pflänzchen der sogenannten Zivilisation schneller als es unserem humanistischen Menschenbild entsprechen mag. Auch wenn das Kannibalismusphänomen mental gern in den Südseeraum verbannt wird, fand es stets auch vor unserer Haustür statt.

Die Katholen fantasieren sich auch heute noch höchst feierlich das heilige Abendmahl so, dass sich in jenem Moment, wo sich der Priester den Wein reinschüttet bzw. die Oblate einführt, der Wein zum Blut Jesus Christus wandelt und die pamsig werdende Flachgebäckscheibe zu seinem Fleisch. Für die Gemeinde führt er die leibliche Vereinigung als höchste Form der Liebe der Mensch zu Gott durch. (So gültig und zu deuten seit 1215 durch den Beschluss des 4. Laterankonzils mit Chef Papst Innozenz III).


   Die lustfeindlichen Protestanten machen das zwar vom Ablauf her ziemlich ähnlich, aber meinen das nicht so wein- bzw. bluternst, sondern essen und trinken eher so in Gedenken an "damals".

So ein seltsamer religiöser Budenzauber, den es in vielen Kulturen in Varianten gab bzw. gibt, lässt sich auch mit realen Menschenopfern betreiben, auf eine detaillierte Berichterstattung duchgeknallter Sekten soll aber an dieser Stelle verzichtete werden. Die Crux an der Sache ist, dass einerseits bis zum Erbrechen dieses Kannibalismustabu irdisch gehütet und gepflegt wird, aber komischerweise bei dessen gleichzeitiger ritueller Überschreitung alles "heilig" (="abgesondert") zu werden scheint. Für den Übermenschen, hier den Heiligen, gilt dieses Tabu nicht, ein ganz anderer Normenkatalog darf plötzlich angewandt werden.

Der sexuelle Wunsch des Meschenfressen bzw. Verspeist-Werden-Wollens könnte gut und gerne in jenen überirdischen Religionsfantasien sein kulturelles Vorbild haben. Und der Armin M. selber? "Damit ich Dich fressen kann!" Der Märchenwolf spricht seine Sexualfantasie ganz unverblümt aus: das Rotkäppchen vollständig besitzen, sie sich ganz einverleiben (im wahrsten Sinne des Wortes), ein Machtwahn, hier vollzogen in gegenseitigem Einvernehmen.

Und Sie, auch als Kind beim Abbeißen des Kopfes vom Schokoladenweihnachtsmann Skrupel gehabt? Wenn nicht, gönnen Sie sich mal wieder "Eat the Rich!" Die bezaubernde Gläser- und Tellerschubse rächt sich nach schlimmsten Mobbing und Jobverlust am Übel dieser Welt - kannibalisch! Oder soll es noch härter sein? Armin M. denkt über den Verkauf seiner Videoaufnahmen nach. Schalten Sie einfach ein, wenn es im TV-Vorabendprogramm heißt: bizzar

Nigel Barley: schreibt: "Es war mir eine gewisse Genugtuung, daß, als ich von den Dowayos wieder Abschied nahm, der Häuptling des Dorfs erklärte, er würde mich liebend gern zu meinem Dorf in England zurückbegleiten, wenn er nicht Angst vor einem Land hätte, in dem es immer kalt sei, in dem reißende Tiere von der Art der europäischen Hunde in der Missionsstation lebten und in dem es, wie bekannt, Menschenfresser gebe."  Traumatische Tropen
Lemmy: Da wird das jahrhundertelang imaginiere und auf Afrika, Südamerika und in die Südsee projezierte Bild des Kannibalen mal greifbare Realität, und dann gerade vor "unserer" Haustür. Kein Wunder, dass die Reaktionen so hysterisch sind. Ich finde es amüsant, dass der seit langem aufsehenerregendste Fall von Kannibalismus gerade dort stattfindet, wo man bis heute gegen afrikanische angebliche Menschenfresser  hetzt.
Lemmy: hoppla, falscher Link -  richtiger Link
(pastor) brixton: Es bleibt die Grundfrage, die nach der Moral. Darf man auf Verlangen töten? (Sterbehilfe sei es nun aus sexuellen Erwägungen oder wegen einer schweren Krankheit) Bringt uns moderner Hedonismus (heute selbstbewusst feiern, morgen selbstbewusst sterben) ein weiteres Stück weg von der Ehrfurcht vor dem Leben, ein Stück näher zum KZ? JA!  
Lemmy: Vom Kannibalismus zum Hedonismus zum KZ? Versteh' ich nicht.  
Wer benutzt denn da mein Pseudonym?: Lemmy(der richtige)  
wixxxer: Hedonistisches Feiern, Drogen bis zum Abwinken, alles geht nicht muss ? Töten (auf Verlangen) als Teil eines modernen Partyvergnügens ... ? Das ist nicht KZ, brixton!  
Lemmy: (der falsche): Sorry, ich bin halt so einfallslos und hab' das "Eat the Rich"-Cover gesehen, und da war es schon passiert ...  
queer.de weiß über Armin: "Ich hoffe, deine Leber enttäuscht mich nicht", schrieb Armin Mewes einem Chatpartner. "Kurz angebraten, mit Zwiebeln, lecker. Saftige Arschbacken geben einen ganz leckeren Sonntags-Braten ab und aus den Beinen schneide ich viele schöne Schnitzel. ... Was älter als 35 ist, kann doch nur noch für Frikadellen verarbeitet werden", schrieb er abschätzig. Er schätzte aber "kleine Rettungsringe an den Hüften",. Brustfleisch serviere er "mit Brustwarze, schließlich isst das Augen mit."  Verabredung zu einem Verbrechen
manni: Die Boulevard-News verbreiten in Windeseile lauthals, dass das so genannte Kannibalen-Opfer seinen Ex-Freund bat, ihm den Schwanz abzubeißen. Gar 5000,- € bot er seinem damaligen Mitdreißiger-Freund dafür.  (dpa)
manni: Es bleibt ein schaler Nachgeschmack, wo fängt Sex an, ab wann reden wir von Vergewaltigung, was ist krank, was ist geil. Jeder wird andere Grenzen finden, doch ich (stehe auf SM) befinde mich in einem Kreisel, frage mich, wo ist Schluss? Muss irgendwo Schluss sein? Höchst filosofisch ? ich sollte zu den etuxx-Drogen wechseln, da ist alles so einfach, nja teils ... .  
Nahrungsergänzung: "Dein Hirn in meinem Herz" soll das neue 2004 realisierte Werk von Rosa von Praunheim heißen, es geht ähnlich wie bei Armin um 2 Kannibalen, die sich zum Festmahl verabreden. Rosa zur BZ: "In unserem Unterbewusstsein haben wir alle solche Wünsche. Jeder nimmt gern aus Zärtlichkeit die Hand oder den Fuß eines Babys in den Mund oder hat den Wunsch, aus Lust seinen Partner zu beißen." Gleichzeitig betonte er jedoch, nicht für eine Emanzipationsbewegung der Kannibalen zu sein. Na denn.