Heimat.
Überlegungen zu einem problematischen Begriff.


Heimat als Reizwort.

Der etuxx-Redaktion geht es nicht anders als vielen anderen Kollektiven, die sich weniger aus äusserer Notwendigkeit denn aus einem inneren Drang der Beteiligten zusammengefunden haben: Von Zeit zu Zeit ist eine Selbstvergewisserungsdebatte fällig. Es war vor etwa anderthalb Jahren, dass wir uns wieder einmal fragten, was etuxx uns eigentlich bedeute.

 Etuxx ist Heimat , sagte ich und erntete nicht nur Beifall dafür. Ernstzunehmende Gegenmeinung: Als Linker habe man keine Heimat. Zu haben. Gefälligst. Nicht einmal eine virtuelle. Heimat sei in jedem Falle ein reaktionäres Konstrukt. - Ein deutliches Verdikt. Aber ein nutzloses: Denn wir entgehen der Heimat nicht. Wir befinden uns nicht pausenlos auf der Flucht.


Heimat: topisch.

Jeder, der versucht, einen Ort zu schaffen für sich und andere (und sei es einen virtuellen), wird diesem Konzept: Heimat erliegen. Er wird einen Ort schaffen, an dem er sich wohlfühlt, weil dort Menschen sind, mit denen er sich wohlfühlen kann. - Dass es mit dem Wohlfühlen nicht getan ist und dass man es für unpolitisch halten kann, steht dem nicht entgegen.

Das Wohlfühlen ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für, nicht erst Ergebnis von Engagement.  Anpassungswissenschaftlich  gesprochen: ein Substitut für andere Gratifikationen wie Geld und Macht, die wir in solchem Zusammenhang ablehnen, weil wir Idealisten sind. (Das meine ich übrigens ernst!).

Heimat ist ein Ort, an den wir (immer wieder) gerne zurückkehren. Um dort (wieder) zu finden, was uns ausmacht, was wir für wesentlich halten, auf was wir nicht verzichten können: unsere Identität. Der sozialwissenschaftliche (sozialideologische?) Diskurs ist seit vielen Jahren von dem Unternehmen beherrscht, Identitäten zu dekonstuieren.

Mit der berechtigten Infragestellung überkommener Selbstkonzepte ist aber gegen die Konzeptualisierung als sinnvollem kognitivem Mechanismus noch gar nichts gesagt. Oder, um mit meiner Grossmutter zu reden: Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Dass wir ohne Heimat leben könnten, ist eine Illusion.

Heimat: atopisch.

Schwule und Lesben sind die Heimatvertrieben der Kleinfamilie. Darum will der reaktionäre Teil der  Bewegung  die Familie zurückgewinnen wie andere Ewiggestrige die sogenannten Ostgebiete. Weder meine Eltern noch den Ort, in dem ich geboren bin, konnte ich mir aussuchen. Heimat in diesem Sinn, eine Heimat also, für die wir nichts können, ist in der Tat ein Grund zu emigrieren.

Es mag illusorisch sein, sich selbstbestimmt zu denken. Aber es ist schlicht überlebensnotwendig. Und also: Freiheit zu einer Illusion, zu einem Selbstbetrug zu erklären, setzt diese genausowenig in´s Unrecht, wie Identität als Konstrukt zu erkennen, jene.

Der entscheidende Unterschied zwischen der  Rattenbar  als Heimat und Ostpreussen als Heimat wäre also nur sehr oberflächlich betrachtet ein politischer oder soziokultureller. Worauf es ankommt, ist die Selbstbestimmtheit: Ich habe meine mir zugeschriebene Heimat verlassen und mir eine neue Heimat gesucht und geschaffen.

Heimat: utopisch.

Ich möchte Teil einer Bewegung sein - das mit der  Jugend-  kann man ja, wenn man die 30 überschritten hat, gerne streichen. Vielleicht ist das dann immer noch pubertär (als Sehnsucht) - aber ganz und gar nicht pubertär ist es zu erkennen, dass Entscheidungen folgenreich sind.

Ich habe mich entschieden, schwul zu sein, ich habe mich entschieden, links zu sein, ich habe mich für bestimmte Menschen entschieden - und, hoppla: plötzlich habe ich eine Heimat. Eine Heimat, der ich mich von Zeit zu Zeit verweigere, natürlich (dass ich das kann, ist ein Zeichen dafür, dass sie die  richtige  Heimat ist), mit der ich hadere, von Mal zu Mal.

Meine Illusionen von Selbstbestimmtheit sind auch vorweggenommene Wunscherfüllungen, also Utopien im besten Sinne, solche nämlich, die zurückwirken in´s reale Leben. Ich kann mich in der selbstgewählten Heimat zwar immer wieder wohlfühlen, aber niemals einrichten.

(Sascha Berlinskij)

heinrich: ich habe das nicht verstanden (und werde es wohl nie verstehen): wieso kannst du dich nicht bzw. niemals in einer - zumal selbstgewählten - heimat einrichten, wenn du dich doch auch in ihr wohlfühlen kannst?! weil die utopien dich immer vorwärts zwingen? vorwärts von was weg? und warum? was wäre der sinn einer solchen rastlosigkeit, was der einer solchen heimatkonstruktion?  
heinrich: ich behaupte, heimat ist zunächst unberührt von utopie; sie ist statisch und zeitlos, sie unterliegt oder ersteht nicht so sehr (aus) der selbstbestimmung, wie du es konstruierst - heimat kann auch und gerade da sein, wo ich keine gemeinsamkeiten sehe, wo ich mich schäme oder ärgere, dass dies meine heimat ist. ich finde deine heimat zu klein, sie scheint mir mehr falle.  
these: heimat ist etwas, wohin man immer nur zurück will. und jedes paradies ist schon ein verlorenes paradies.  
i.d.S.:: Grüße nach einem fernem homoland...  
visco: meine fresse, muß denn der Begriff HEIMAT sein, mit dem schließlich scheiße (viel) Politik gemacht wurde und wird ? Will jetzt gar nicht wirklich damit anfangen, darüber zu philosophieren, daß sich der Begriff z. B. in Englisch od. Französisch gar nicht übersetzten läßt, da gibts was für "zu Hause" z. B. oder das leidige Vater- oder Mutterland aber keine Heimat!  
Sascha B.: @ visco: Es muss dieser Begriff Heimat sein - gerade weil er so besetzt ist. Ich finde es einigermassen wichtig (und auch intellektuell interessant), solche Begriffe / Konzepte infrage zu stellen. Und: Ich möchte keine (sprachliche) Welt haben, in der geklärt ist: Diese sind "Wörter der Rechten", jene "Wörter der Linken". - @ heinrich: Es ist ganz einfach: Wer sich - wo auch immer - "einrichtet", der hat verloren (oder ist es). Ich halte es für ein absolutes Essential kritischen / linken Bewusstseins , sich nirgendwo "einzurichten".  
zuhause@home.com: wer wohlfühlen für unpolitisch hält, sollte einen männerpanzerkurs absolvieren!  
Sascha B.: genau! wo gibt´s denn solche kurse? und: sind die auch kostenlos? ich halte ja "wohlfühlen" gar nicht für unpolitisch - das wollte ich auch in dem text oben deutlich gemacht haben...  
rahaus: ohne einrichten bleibt die wohnung leer. konspirative wohnungen sind aber immer eingerichtet.  
Alexis: wir können ja ab sofort die Rattenbar boykottiern, damit sich niemand erst daran gewöhnt oder sich da gar noch wohlfühlt!  
onair: wer ist denn "wir", dass die so wichtig sind für ein Wohlfühgefühl in der rattenbar?  
Alexis: Wir? Naja alle die wir uns da bisher wohl gefühlt haben. Das ist als Prophylaxe gemeint gegen "sich einrichten". Nach dem Motto: aufhören wenn's am schönsten ist...  
heinrich: dieses motto, liebe/r alexis, könnte sascha wohl sehr gefallen! ich richte mich aber trotzdem gerne ein, und ich meine nicht (nur) die innendeko; eine rest-verlässlichkeit ist wichtig, ein bezugspunkt - wenigstens einer - und das kann auch und gerade heimat  
heinrich: ich widerspreche dir daher entschieden, sascha, nicht DER hat verloren, der sich im/mit wohlgefühl einrichtet, sondern DER, der sich links nennt, weil er sich nirgends wohlfühlen kann! diese meine position ist zwar viel weniger dogmatisch, aber deutlich menschlicher im besten sinne, und dieses menschlich sein scheint mir wichtiger als linkes dogma.  
heinrich: und nun nenne mich reaktionär und unfähig, ein "linkes bewusstsein" zu entwickeln, aber ich halte es doch wirklich eher mit der idee, dass ein politisch "richtiges" leben nicht mit einer unsteten freudlosen existenz zu bezahlen sein muss - trotz der gefahr, dass der allseits lockende materialismus stärker als die flamme des glaubens an kommun- oder sonstigen -ismus wird - was wäre ein leben ohne wohlfühlen wert?  
mutti: das problem, meine herren heimatsucher, ist, das hier so getan wird, als ob wir uns unsere heimat selbst nach kriterien von "links", "kuschelig" "wohhlfühlig" aussuchen könnten: dem ist nicht so, denn heimat bleibt ein qualvolles zwangskorsett, dem zu entfliehen, sich dessen zu entledigen, sich davon zu emanzipieren nicht gelingen will; bzw. wenn es denn gelänge, der preis dafür selbstzerstörung und tod bedeutet.  
Sascha @ Heinrich: Lieber Heinrich, lies das Kleingedruckte: Du hast maximal 700 Zeichen pro Eintrag... :-) Im übrigen noch einmal: Wohlfühlen ist nicht gleich Einrichten! Ich plädiere für viele Heimaten, wohin ich immer gerne zurückkehre, denen gegenüber ich aber auch kritisch bin (was mir leichter fällt, eben weil ich mich nirgendwo "eingerichtet" habe). Trotzdem bin ich meinen Heimaten immerhin so treu, dass ich sie nie verleugnen, verleumden oder verraten würde.  
Sascha @ Mutti: Na, so qualvoll ist eine selbstgewählte Heimat (bzw. eine, bei der ich das zumindest wirkungsvoll imaginieren kann und die die Emanzipation von einer unfreiwilligen voraussetzt) nun doch nicht! In der Heimatboutique soll Selbstbedienung das Prinzip sein. Irgendetwas muss man eben anziehen - aber ich will kein Korsett von der Stange oder im Ausverkauf und ein modisches, das nur für eine Saison gut ist, erst recht nicht.  
Links ist da: wo keine Heimat ist  
Links ist da: wo keine Heimat ist  
scheuklappen zu mülleimern!: jaja, vielen dank! we got that. we had that. links ist auch eine heimat. wie wär´s denn mal damit?  
these 2: heimat ist das, wohnin man zurückkehrt, auch wenn man sich dort nicht wohl fühlt.  
Robert M.: Keine Heimat haben zu wollen, meine Damen und Herren Heimatverneiner, bedeutet sich seiner Wurzeln zu beschneiden. Eigene Geschichte zu dem Aktenhaufen "Ich war's nicht gewesen - das waren die anderen" zu packen, ist nur zu bequem und billig. Gestern, heute, morgen hängen so eng zusammen, dass Heimatbeschnittene nur von unendlich entfernten Utopien reden können, wenn sie Zukunft meinen. Zur Einrichtungsfrage: Auch halbfertige kontroverse und verletzte Heimatgefühle (für die KritikerInnen: das kann auch Hass sein) müssen "bewohnt" werden, und deshalb auch eingerichtet – sie sollten aber genügend Raum für Veränderungen bereithalten, selbst ein Umzug muss noch drin sein!  
Ernst: In diesem Adornophilen-Treff wäre ein Bloch-Zitat zu Heimat wohl verschwendet, wie?  
Lustig: na Sascha B., war dir jetzt deine eigene Anmache zu heftig, dass du sie wieder rausgenommen hast?-  
Lustig@Ernst: Sach mal, wie kommst du denn darauf, dass das hier ein Adornophilen-Treff ist? Ich verstehe das gar nicht. Woran machst du das fest? Was hat denn Adorno zu Heimat gesagt? Und was sagt Bloch dazu? Und was sagst du dazu?  
Dann sag ich es: "Heimat ist, wo noch keiner war." (das prinzip hoffnung, e.b.)  
Sascha B. @ Lustig: Ja, Du hast recht. Ich weiss nicht, ob ich aus Fehlern lerne - aber ich versuche, sie rückgängig zu machen... :-)  
Sascha B.: "Heimat ist, wo noch keiner war." - das ist ein schöner Satz gegen organisierte Vertriebene und ihresgleichen. Aber ein taktischer. Wenn wir unter uns sind, müssen wir zugeben: Wir waren schon mal da. Und wir wollen da (gelegentlich) wieder hin. Das wird uns einige Umwege kosten. - Genau darüber wollte ich reden...  
paula: blut und erde. die deutschen wälder. ach wo die tannenwipfel.....heimat ist ein seltsames wort. wörter aus ihrer bedeutung zu lösen ist ein anstrengendes unterfangen und braucht viele leute die sich auf dieses ziel einigen. siehe queer oder lesbe oder schwul. die aneignung hat jahrzehnte gebraucht. heimat möchte ich mir nicht angeignen die kann da bleiben wo sie ist.  
paul: und mit der heimat gleich auch der begriff des zuhause. wie wärs denn mit der einfachen feststellung, da person sich in selbstgewählten räumen geborgen fühlen kann. dort einen platz zur eigenen verortung findet. identität aktiv konstruiert. vielleicht kann der begriff heimat ja auch durch kollektiv ersetzt werden.  
Sascha B.: Hm, wie gehe ich mit jemandem um, der vielleicht etwas Ähnliches meint wie ich, der aber andere Begriffe dafür hat? Deine Definition, Paul, ist alles andere als eine "einfache Feststellung". Und: "Heimat" kann natürlich NICHT durch "Kollektiv" ERSETZT werden, denn es geht doch schon AUCH um Orte und Gegenstände.  
Zitaten-FinderIn: "Heimat ist das trügerische Licht der je eigenen Kindheit, das jedem in sein Leben scheint, wo also jeder schon einmal gewesen ist und wohin er nie zurückkehren kann - es sei denn um den Preis der Regression. (...) 'Heimat' ist also ein ins Positive umgelogener Trennungsbegriff, 'Heimat' ist immer die Heimat derer, die eine verloren zu haben glauben, 'Heimat' ist eine leicht weinerliche Verlustanzeige."  [Quelle]