Innenansichten einer Massenpsychose
von Leo Bauer
die Redaktion rät den Nicht-So-Bibelfesten:
Sag, wie hältst Du's mit der Religion? Gott ist tot, aber theologische Versatzstücke existieren oftmals unerkannt in der politischen Kultur weiter. Auch dann, wenn's um Sexualität geht: Das Paulus-Spiel kann man auch ohne Taufschein spielen.
Am 26.9. hatte die Rattenbar zum christlichen Abend geladen. Auf den ersten Blick Kuriosa aus dem Trashfundus der Religion, ein gelungenes Showprogramm, wie es sie auch schon zu anderen Themen gab. Aber etwas war anders. Als der Chor das Salve caput cruenitatum aus der Matthäuspassion sang, ist mir das Lachen im Hals steckengeblieben. Das Stück zeichnet auf postmittelalterlich kolorierte Weise das Bild des Leidenden Jesus - eine tragende Säule des Messiasgedankens und zugleich eine der paradoxesten Identifikationsmöglichkeiten, die diese Religion zu bieten hat.
Ich habe es an dem Abend das erste Mal dekontexualisiert, sprich ausserhalb des liturgischen Rahmens gehört. Es ruft einen Abschnitt meines Lebens in Erinnerung, in den ich ungefragt hineingewachsen bin, und und dessen Gefühlskonfiguration mir wohl dauerhaft in Erinnerung bleiben wird. Und in dem ich, zuerst mit Staunen, dann mit Pflichtbewusstsein, später mit Zynismus und schliesslich mit Unverständnis wahrgenommen habe, wie unverschämt einfach es ist, die Emotionen von Menschen zu lenken, die dafür die erforderliche Grundhaltung mitbringen.
Freilich, seit 9 Jahren bin ich Atheist (seit 7 davon offen), und das ist besser so. Ich habe mich während der Aufführung gefragt, wieviele Mannjahre an Messdienern wohl im Raum sein mögen, ich selbst hätte allein 7 beizusteuern. Wie wenig von den gesellschaftlichen Auswirkungen der Religion auch in den Kreisen durchschaut wird, die sie mehr oder weniger oberflächlich ablehnen, hat mich immer wieder verblüfft. Es sind Elemente aus dem Christentum und seiner intensivsten Form, dem Katholizismus, die bis in die heutige Zeit nicht nur unsere Szene, sondern oftmals mehr noch unsere Nische darin prägen. Sie tun das auf eine Weise, die selten reflektiert wird, da sie mit den gängigen politischen Analysemodellen nur schwer zu greifen ist.
Es sind tiefsitzende Verhaltensmuster, denen ihre ideengeschichtliche Herkunft oftmals gar nicht mehr anzumerken ist, und gerade das macht sie so heimtückisch. Wer Erlösung anbieten will, muss auch ein Bedürfnis dafür herstellen. Diese Funktion erfüllt im Christentum die Schuldmetaphysik, die bereits auf den ersten Seiten der Bibel in der Erzählung von der Erbsünde eingeführt wird. Eine zentrale Rolle bei der Vergegenwärtigung des Schuldgefühls spielt die Herabstufung der Sexualität: Jedes unkontrollierbare Gefühl ist als Sünde anzusehen, jede nicht reglementierte Sexualität muss zu Problemen mit dem Selbstwertgefühl führen - und tut sie das nicht von allein, dann muss man dem eben gruppendynamisch nachhelfen.
Im Umkehrschluss sind Asexualität und Unschuld gleichzusetzen. Konsequent durchgesetzt, führt das zu einem Klima von Angst, Unwissenheit, Sprachlosigkeit und vorauseilendem Gehorsam. Das Reizvolle an diesem Spiel ist, dass es erlaubt, vom Ausgrenzen des Schuldbehafteten persönlich zu profitieren: Wer im Namen des Rechts straft oder eine Busse oder Exkommunikation anordnet, inszeniert damit nicht nur seine eigene Integrität, sondern baut sich auch eine Machtposition aus, und -last not least- Spass machen kann es auch. Die positive Rückkopplung ist dafür verantwortlich, dass dieses Phänomen so schnell Eigendynamik erlangen kann.
Ein gewisser Saulus soll der Legende nach seine Haltung zum Christentum diametral geändert haben, als er erkannte, wie gut ideologisch tief verankerte Schuldzuweisungen dazu geeignet sind, die nötige Akzeptanz für den Aufbau und die Erhaltung von Hierarchien herzustellen. Dazu ist es erforderlich, dass das Bewusstsein von Schuld eine existentielle Dimension erlangt, nur dann hat es so gründliche soziale Effekte. Das ist erreichbar durch Polarisierung, durch die möglichst kategorische Gegenüberstellung von Gut und Böse, durch Klischeedenken. Und natürlich braucht es eine Sache, in deren Namen man antritt, und die diesem Spiel den nütigen Ernst verleiht. Wenn die Ernsthaftigkeit dieser Sache durch Opfer untermalt ist, um so besser. Sache und Opfer sind hier die Botschaft Jesu und seine Kreuzigung.
Der Verweis auf das Opfer und sein Leiden liefert den Freibrief für drastische Massnahmen, die ansonsten in ihrer Zweckmässigkeit hinterfragt werden könnten. Oder anders gesagt: Wenn das Zölibat gerade schwerfällt, am besten an Jesus denken, wie's dem wohl ging. Die Motivation der Kirche, mit der Sexualität so unsachgemäss zu verfahren, dürfte darin liegen, dass die beschriebenen hierarchiebildenden Auswirkungen angestrebt werden. Deren wesentliches Ergebnis ist die Formierung einer klerikalen Elite, deren Angehörige sich in diesem Spiel der Schuldzuweisungen ihre Machtposition ausgebaut haben und deren Wort innerhalb der Weltanschauung unanfechtbar ist. Diese erhebt folgerichtig einen Alleinvertretungsanspruch und sichert ihre Position dadurch ab, dass sie den Zugang nur isolierten Individuen erlaubt, und auch darunter nur solchen, deren ideologische Hörigkeit rituell auf die Probe gestellt wurde.
Wer sich dieser Probe verweigert, bleibt oder wird isoliert. Auf diese Weise kann sich auch das fadenscheinigste Schwarzweissdenken längerfristig stabil behaupten, solange es gelingt, eine Sache zu vertreten, für die es noch weitere Anhänger gibt. Und natürlich hat das Spiel auch einen Haken: Um sich darin bewähren zu können, muss man entweder die kirchliche Vorstellung von der Schuld so weit verinnerlichen, dass es einem den Spass an der Sexualität verderben kann, oder aber einen wahrhaft erlesenen Zynismus pflegen. Doch das kann sich auszahlen: Paulus hat es auf diese Weise zu einem führenden Posten bei der christlichen Erschliessung des Mittelmeerraums gebracht.
Die Kirche hat heutzutage auf derartiges Spiel freilich schon länger kein Monopol mehr, man findet dieses auch im säkularen Bereich, sogar dort, wo ursprünglich ein konstruktiver Umgang mit Sexualität angestrebt worden war, dann aber der Verweis auf die Traumatisierung zur politischen Utopie erhoben wurde. Das Paulus-Spiel hat die schwule Post-175er-Linke in der zweiten Hälfte der 90er Jahre tief geprägt, auch wenn es inzwischen weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Anachronistisch war es freilich schon damals. Seine Geschichte muss von denen, die darin eine aktive Rolle einnahmen, erst noch aufgearbeitet werden.
Folgeerscheinungen sind bis heute wirksam: Die Tendenz zur zeigefingerhaft wertenden Rede über unterschiedliche Formen von anonymer bis partnerschaftlicher Sexualität. Die tiefen Irritationen um den Zusammenhang von Sexualität und Politik im allgemeinen sowie SM und Politik im besonderen. Die Karikatur antipatriarchaler Politikansätze in Form klischeehafter Erfüllungsmoral. Die Verödung der Utopiediskussion. Der - verglichen mit der Hetero-Politszene - nur rudimentär entwickelte Pluralismus. Die sozialen Verwüstungen infolge der Inszenierung Homoland 96/97. Die Tatsache, dass sich das Kritikpotential auf Etuxx bislang nur anonym vollständig entfalten kann.
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