Smells like Teen Spirit ...
das waren Zeiten!

Erlebnisgastronomie von Hinten & Unten
Eine Zeitreise von 1982 bis 1999, Teil III:
Das erste Jahr im Subversiv


von Mutti

Herbst 1991: Die Auseinandersetzung über Friedensbewegung und Golfkrieg hat antiimperialistische Gewißheiten aufgeweicht, und die Berliner Linken einigen sich auf 'Halt's Maul Deutschland'. In Kohls blühenden Landschaften tobt der rassistische Mob (Hoyerswerda), Diepgens Senat wird für die nächsten 10 Jahre weiter regieren, der Planet in der Köpenicker Straße wird zum geheimen Sehnsuchtsort, und die Kulturschickeria wird erst in den Jahren darauf die Gegend zwischen Hackeschen Markt und Rosenthaler Platz für sich entdecken.

Ein Jahr nach der verlorenen Schlacht um die Mainzer Straße sind die Wunden zwar noch lange nicht verheilt, aber das Bedürfnis der Resttuntenhäusler der Kastanienallee, ihre Isolation aufzubrechen und wieder mit einem Projekt in die Öffentlichkeit zu gehen, trifft sich mit dem Angebot von schwulen Interim-Redakteuren aus dem besetzten Haus in der Brunnenstraße, in ihrem Infocafé Subversiv den Montag als Homoabend in der Tradition der Forelle Blau zu gestalten.

Der Überfall von Jungnazis auf Charlotte von Mahlsdorfs Sommerfest im Sommer 91 hatte kurzfristig einen enormen Aktivitätsschub, - nicht nur in der schwulen Gemeinde -, ausgelöst, der allerdings nach einer Großdemo schnell wieder verpuffte. Das Subversiv sollte also nicht zuletzt ein Scharnier schwuler Antifaaktivisten mit den Restmainzern werden, um künftigen Mobilisierungen und Perspektivdiskussionen Ort und Rahmen zu geben. Ein gutes Jahr besteht das HomoSub als loser Verband von Tresenschichten mit oder ohne Fummel. Organisiert wird das Subversiv von der Infocafégruppe der Brunnenstraße, die an den anderen Wochentagen im Subversiv Volxküche, Punk oder kurdische Abende veranstalten. Die Gäste müssen, um ins Subversiv (bestehend aus zwei dunklen Räumen im Hochparterre eines Hinterhofgebäudes) zu gelangen, durch das gleiche Treppenhaus wie die Hausbewohner.

Für viele Exmainzer, die nicht im neuen Tuntenhaus leben, ergibt sich hier erstmals die Möglichkeit, den abgerissenen Faden gemeinsamer Aktivitäten wieder aufzunehmen, weniger mit klassischer Politarbeit als mit fröhlicher Pop-Provokation, wie einer Talkshow zum Thema 'Berufliche Karrieren nach der Räumung' oder einer programmatischen 'Tunten&Techno'-Nacht.

Anfangs öffnet das HomoSub brav um 19:00 Uhr; als dann die Abende immer länger werden, kommen die Gäste auch immer erst dann, wenn die Tresenschlampen schon hackedicht und in nicht zu bremsender Partylaune sind und sich neben dem Getränkeverkauf gleichzeitig als DJs versuchen. Im Frühjahr 92 fängt das Subversiv an zu tanzen. Zu Napalm Death und Westbam, Nirvana und Abba. Irgendwer bringt immer irgendwelche Tapes mit, Mitschnitte aus dem Planet oder eben Speedcore-Compilations und Schlagermixe. Und der Montag im Subversiv spricht sich herum und alle kommen. Heten, denen die autonomen Kneipenprojekte zu lustfeindlich und Prenzelberger Homos, denen Burgfrieden und Schoppenstube zu spießig sind; schwule FU-Studis mit Iro, übriggebliebene Raver vom Wochenende und die ersten Homoglatzen bilden eine Melange, die weit über das hinausgeht, was die Initiatoren mit ihrem Kuschelwohnzimmer für heimatlose Exmainzer geplant hatten.

Im Laufe des Sommers 92 zeigen sich die ersten Verwerfungen. Die Infocafégruppe der Brunnenstraße bröckelt und der lose Verband des Montagstresens stößt an die Grenze ihrer Motivation für unbezahlten Dauerarbeitseinsatz. Der große Knall bleibt allerdings aus, denn im Oktober wird das Subversiv aus Renovierungs- und Erweiterungsgründen für ein Jahr dicht gemacht.


Bisher in dieser Reihe erschienen:

  • Teil I: O-Bar und Café Anal
  • Teil II: Forelle im Tuntenhaus Mainzer Straße

  • Jens: Ich kenn das Sub erst von später, kleine Anfrage: "programmatische 'Tunten&Techno'-Nacht" gabs das wirklich? Und wie sah das aus?  
    Mutti: Naja, da gabs so Technik und der DJ war von der Wachbataillon Felix Djerschinsky. Keiner wußte so recht was das soll, aber der Zeitgeist verlangte es.  
    Jens: ... Mensch Mutti, mehr... Wachbattailon... Was für Technik, was für Tunten ....? Dat interessiert mir.  
    Ronda Rotz: Und wer war Felix Djerschinsky?  
    Mutti: Lenins Geheimdienstchef (schreibt sich aber irgendwie anders) und das Wachbataillon war die Prätorianergarde des MfS. Besagter Hobby-DJ hatte dort seinen Dienst an den werktätigen Massen geleistet. Als regelmäßiger Montagssubbesucher wollte er halt mal Musik machen und das tat er mit tapes und ziemlich viel technischen Firlefanz drumherum. 'Tunten und Techno' als Motto stammte, glaube ich mich zu erinnern, von mir und programmatisch deshalb, weil mit der Wiedereröffnung ein Jahr später tatsächlich die Ära der House-DJs im Montagssub anfing. Dazu ausführlicher in der nächsten Folge.  
    für Ronda: Ossi-Info-Dienst: Wachregiment Felix Dserschinski, unterstand nicht der NVA, sondern der Stasi, benannt nach Felix Edmundowitsch Dserschinski (organisierte 1917 in Russland die Tscheka (mörderische Geheimpolizei)). Aufgaben des Wachregiments F.S: Wach- + Sicherungsdienst für Stasi + SED auch als Zivi auf Demos, auch als Bodygards etc. eingesetzt. Sehr verfeindet mit dem Wachregiment "Friedrich Engels", die machten die lustigen Wachablösungen an der neuen Wache mit der ewigen Flamme. Beide Regimenter waren in Berlin(Ost) stationiert, einander spinnefeind - und lieferten sich gern in Ostberliner Diskos Schlägereien.  
    Mutti: Ich merk schon: Techno kam in's Subversiv mit der Stasi. IM Techno und so.  
    MM: Flammende Männererotik in Pankows Wachregimentern. Jetzt weiss ich, warum Schernikau rübermachte.  
    Mutti: Schernikau hat seine Rede (dokumentiert hier auf etuxx) im Oktober 1990 auf einem Literaturabend im Max Hölz Antiquariat c/o Tuntenhaus Mainzerstrasse vorgetragen. Das Max Hölz Antiquariat (für DDR Literatur) durfte dann eine Woche später nicht mehr Max Hölz Antiquariat heißen. Max Hölz' Engagement für eingeknastete Sexualverbrecher (Schwule etc.) in den 20iger Jahren wurde von Mainzerstraßen-Feministinnen als Pro-Vergewaltiger Haltung gedeutet. Nachzusehen im umstrittenen Channel 4 'Battle of Tuntenhaus' Film. Da wo der eine mit dem Farbeimer auf der Leiter steht.  
    Jens: Wie sah dann der Streit konkret zwischen "Euch" und den "Mainzerstraßen-Feministinnen" aus, die haben gesagt, ihr habt gemacht?  
    Mutti: Äh, ja. Das kann man so sehen. Da gabs soviele verschiedene Haltungen dazu. Die beliebeste "Max Hölz, wer ist das überhaupt" bis zu erbitterten Debatten innerhalb des Tuntenhauses, dass um des lieben Straßenfriedens willen lieber nachgegeben wurde. Ich glaube nu!c kann da bestimmt mehr erzählen.  
    nancy: jens, sicher war es für einige wenige aus dem tuntehaus ein direktes unterordnungsverhältnis in der art "sie sagen, wir machen" (und ich fand diese haltung nach einigen tausend jahren patriarchat auch nicht völlig bekloppt). typisch war aber kein einfaches nachbeten feministischer positionen, sondern auseinandersetzung damit. als einige frauen sagten, max hoelz sei ein typischer linker macker-politiker gewesen, wurde nicht gleich der name übermalt, sondern wir haben erst mal versucht zu verstehen, was das heißt.  
    nancy: hoelz schreibt in seiner biografie auch über eine zeit im knast und über die männer, die er da kennengelernt hat. (ich glaube, sie tauchen sogar in der widmung auf -- bin aber nicht sicher.) das gab es 175er (homosexuelle), zuhälter und vergewaltiger. solidarität mit den 175ern -- das war sympathisch. mit den zuhältern schon nicht mehr: sie beuten frauen direkt aus und sind fast immer gewalttätig. für hoelz waren das alles nette kerle, mit denen er im knast gegen die wärter zusammenhalten konnte. aber er hatte nicht einen satz zu der gewalt gegen frauen geschrieben, die diese typen in ihrem zivilleben ausgeübt hatten.  
    nancy: max hoelz hat das problem garnicht gesehen, er lebte in einer anderen zeit und er war ein mann -- aber ist das eine rechtfertigung? wir waren auf unterschiedlichen ebenen: einige (auch die beiden vom antiquariat) bemühten sich um historische einordnung und kritische würdigung. andere (darunter viele aus dem frauen/lesben-haus, aber auch aus unserem) sagten, der name sei programm, da helfe alle differenzierung nichts, der name stehe ja draußen dran. die zweite position hat sich schließlich durchgesetzt, weil niemand ausgerechnet an dieser stelle einen schweren konflikt wollte. -- so viel zum damaligen ablauf.  
    nancy: ich selbst finde, dass differenzierungen wichtig sind. ein bisschen mehr auseinandersetzungen hätte es schon noch geben können -- auch darüber, wie auseinandersetzungen eigentlich geführt werden sollten, denn das war ganz klar ein vorgabe-nachvollzug-schema. an vielen stellen ist uns ein vertrauensvoller, (patriarchats)kritischer umgang mit den frauen gelungen, die im frauen/lesbenhaus nebenan wohnten (wir waren also nicht nur irgendwelche typen für sie), und mehrere von ihnen kenne + schätze ich heute noch. ich glaube, für die meisten aus dem tuntenhaus war genau das wichtiger, als an so einem punkt recht zu behalten.  
    stjopa: wie fanden denn damals die tuntenhäusler die rede von schernikau?  
    Gründerin: Ich glaube, ich habe damals die Veranstaltung mit meinem Staubsaugerauftritt gestört (heute hieß das Performance, oder?)  
    nancy: an gründerin: ach, du bist das, schatz! ("...und mein hobby ist staubsaugen...") :-)  
    nn: stjopa, das antiquariat und seine veranstaltungen lebten mehr von der (hochkulturellen) laufkundschaft, als von den tuntenhaustunten. das haben also nur wenige hausbewohnerinnen gehört.  
    Leo: An der heutigen Mainzer Straße Nr. 4 steht übrigens schon seit einiger Zeit ein Grafitto: "Unsere Häuser könnt ihr räumen unsere Herzen nicht." Es kann sich aber natürlich auch auf die Mainzer als Ganzes beziehen.  
    'ne andre exe: leo, es bezieht sich in jedem fall auf die mainzer als ganze, weil es da nicht nur ums tuntenhaus ging. -- übrigens sind solche sprüche ja meistens ein bisschen schlicht: "ihr". "ihr"? wer? und fahren die, die da angeblich angesprochen werden, an dem haus manchmal vorbei? ich will die ex-tuntenhäuslerinnen ja nicht loben, aber ein bisschen was witzigeres hätten wir wahrscheinlich hingekriegt. andererseits, was haben wir denn hinterher überhaupt hingekriegt? nix... :-(  
    Sascha B.: Anderer Ex: hör´ auf mit dieser fast schon rhetorisch erscheinenden Niedergeschlagenheit! Was das Tuntenhaus in der Mainzer "hingekriegt hat", lebt heute noch fort! Politisch: wie rudimentär und klandestin auch immer. Aber v.a auch persönlich: ganz schlicht dadurch, dass es Euch gibt und wir Euch kennen und Ihr uns was erzählen könnt! Das hat bei allem, was ich in den letzten zehn Jahren unternommen habe, eine gewichtige Rolle gespielt: von der "Schwulen Antifa" bis zum "Schlamm- und Rattenwagen", von der "H-" bis zur "Rattenbar" und von der "Tuntentinte" bis zu "Etuxx"... (Und mit dieser Einschätzung stehe ich nicht allein.).  
    Mutti: Sehr schmeichelhaft Sascha! Allerdings ist das, was du als "rhetorisch erscheinende Niedergeschlagenheit" bezeichnest keinesfalls rhetorisch: Die Haltung, seinerzeit gescheitert zu sein und danach nix mehr politisch auf die Reihe gekriegt zu haben, zieht sich wie ein roter Faden durch die Biographien der Ex-Mainzer. Ein bemerkenswertes und trauriges Phänomen. Ich seh das - by the way - nicht so.  
    Lore: Bin ich naiv oder zu sehr von der Ära Kohl geprägt? Ich finde, dass realistisch gesehen wohl kaum mehr drin war. Bestenfalls hättet ihr Verträge bekommen und säßt komplettsaniert heute immer noch da. Man kann sich in Kreuzberg ja ansehen, wie das geworden wäre. War das euer Ziel? Ging es nicht mehr um den "kurzen Sommer der Anarchie", um diese Erfahrung und um ihre Wirkung auf euch und auf andere? Das soll jetzt nicht zu selbsterfahrungmäßig klingen. Bitte klärt mich auf.  
    nancy: lore, ein bisschen mehr als vertragswohnen in hübschen häuschen wäre schon möglich gewesen. mit der räumung der mainzer war die hausbesetzerInnen-bewegung in berlin zerschlagen. also sähe die stadt heute etwas anders aus, wenn wir die mainzer (und damit eine menge anderer sachen) hätten durchsetzen können. übrigens auch, weil berlin dann nicht seit 10 jahren großkoalitionär regiert worden wäre. der damals noch recht neue rot-grüne senat war ja an der räumung zerbrochen. ich sehe die straße als einen dieser 'crucial points', wo es um viel mehr geht, als auf den ersten blick ersichtlich.  
    Mutti: ...und auf dem zweiten Blick tun sich Abgründe auf, die die Nachgeborenen wohl nie nachvollziehen können: Im Bewußtsein dessen, was 1990 in der Mainzer auf dem Spiel stand, haben wir mit kommunistischer Disziplin, Verwegenheit und Tuntenmut bis zur letzten Minute gekämpft. Alle zusammen. Auch wenn einige ihre Ikeareale in das Tuntenhaus geschleppt haben; wir haben das verteidigt ohne Kompromisse mit der Gegenseite.  
    Jens: Hört doch auf mit dem Revolutionskitsch, Ikonenmalerei a la Che in Berlin. Die Geschichte der Mainzer hatte alles was ein gutes Bühnenstück braucht, sie ist kurzweilig, weil zeitlich kurz, mündet in ein letztes Aufbäumen einer linken w-dtsch. Bewegung in ein grandioses Finale mit Paukenschlag. Der Zusammenbruch des Ostens war doch für das Kleinerwerden einer linke Bewegung mitbestimmend. Berlin bot als einer der wenigen Orte überhaupt noch Perspektiven. Raum im Osten für Westlinke. Das politische Durcheinander bot Platz und Bedarf für diese schönen Nischen (Anal, Mainzer, Subversiv etc.) Mutti, auch später brachen noch Weltbilder zusammen, aber die waren nie wieder so pompös inszeniert.  
    NörgelKid: "früher... nie wieder... damals... wir haben gekämpft..." Ihr solltet Euch so ein kleines Abzeichen machen und wie alte Spanienkämpfer durch die Szene reichen lassen. Geht mir am Arsch vorbei, die Mainzer. Keine Relevanz fürs heute.  
    Mutti: @ IM Jens: "Raum im Osten für Westlinke" - Sag mal, tickst Du noch richtig? Mit Deiner Denke komme ich nicht klar. "Lebensraum im Osten" - die Sprache kenne ich irgendwoher. Und das "politische Durcheinander" nach dem 9. November, dass die Mainzer Besetzer Deiner Auffassung nach ausgenutzt haben um zu kolonialisieren! Auweia. Her mit dem antifaschistischen Schutzwall.  
    Mutti: @ NörgelKid: Es ist total ok ey, wenn dir das mit der Mainzer alles am Arsch vorbeigeht. Verrate mir nur einfach mal, was für relevante Sachen Du für hier und heute auf der Platte hast, bzw. was für Aktiönchen deinerseits ich verpasst habe, um sie entsprechend würdigen zu dürfen.  
    Mutti: @ Jens: Jetzt mal im Ernst. Du meinst, der "Osten" ist zusammengebrochen. Tat er das wirklich? Oder war es nicht die Konsequenz des Kaputtrüstens, kaputtwohlstanden, kaputtagitieren vom, äh, der NATO/EU/USA? Und waren wir, die Mainzer also die letze Geheimwaffe des Westens um der DDR den letzen Todesstoß zu geben. Tell me, please.  
    Jens: Mutti, jetzt fass Dir mal an die eigene Nase, wie gern läßt Du etwas provomäßig einen Beitrag ab, der überspitzt etwas anspricht, ok. der Witz war unter der G-linie. Aber Zusammengebrochen ist der Osten doch wirklich, wieviel politische Gruppen (ich kenne Leute in CAN, die mir davon erzählten) versandeten. Nicht die einzelnen Gruppen sahen einem Mitgliederschwund, nein generell es gab weniger Gruppen, gründeten sich weniger neue .. etc. Alles brökelte ein wenig. Das Prinzip Markt hatte irgendwie gesiegt - und diese Niederlage lähmte. Überall. Auch nach der Mainzer. Natürlich wart ihr nicht der Todesstoß der DDR, aber Nichtmainzer waren auch frustriert, es war halt nicht jeder Hausbesetzter.  
    NörgelKid: Liebe Mutti. Entschuldige, das ich Dein Lebenswerk geschmälert habe. Du hast alles getan, um uns eine große Vergangenheit zu ermöglichen. Wir werden sie immer in Ehren halten. Und meine Aktiönchen sind nicht der Rede wert. Mach dir keine Sorgen um mich. Kannst Du mir 100 Mark leihen? Dein missratener Bengel  
    Lore: Was stand denn 1990 auf dem Spiel? Was habt ihr so alles verteidigt. Ich habe das aus der Ferne nicht so mitbekommen. Aus der Ferne gesehen war das alles nicht sehr überraschen.  
    nancy: jens, nörgelkid + mutti, können wir bitte von der persönlichen ebene runterkommen? ich habe jedenfalls nicht vor, über die mainzer in der anordnung "veteranen" ./. "missratene bengel" zu diskutieren. (kompliment übrigens für die idee mit den 100 mark.) denken wir also über politik nach statt über gekränkten eitelkeiten. -- die mainzer hatte tatsächlich bedeutung als linke struktur. dort wohnten viele aktivistinnen, fanden treffen statt, gab es diskussionen etc. genau aus diesem grund wurde sie auch verteidigt, als die räumung bevorstand (es ging nicht um wohnungen für unterprivilegierte jugendliche).  
    nancy: ein breites bündnis hat die straße ermöglicht und getragen -- nicht nur autonome und antiimps aus dem westen, auch nachbarinnen, gegnerinnen des ddr-anschlusses etc. übrigens wurde das tuntenhaus u.a. von linken, so genannten "bürgerlichen" schwulen unterstützt und andere häuser hatten andere freundinnenkreise. ein sogar noch breiteres bündnis hat versucht, die straße zu verteidigen. dazu gehörten ddr-bürgerrechtlerinnen, grüne, pds-leute, ein paar aufrechte abgeordnete und vor allem viele menschen aus der gegend um die mainzer. für sie alle waren die panzer und hubschrauber sicher ein einprägsames erlebnis. ein verlorener kampf, der sich in ihre zukunft hinein auswirkte.  
    nancy: die wichtigkeit solcher verlorenen kämpfe sollte nicht übertrieben werden -- aber auch nicht unterschätzt. natürlich ist 1990 und danach viel mehr kaputt gegangen als ein schöner ort, wo leute gewohnt, sich getroffen und pläne ausgeheckt haben. andererseits setzt sich der neoliberale durchmarsch aus der vielzahl solcher zerstörungen kleiner freiräume zusammen. dort war eine struktur, die sich gewehrt hat, aber sie konnte ihr projekt nicht halten. und das hatte auswirkungen über den frust der direkt beteiligten hinaus, denn es war ein symbolischer kampf, in dem es um mehr ging als auf den ersten blick erkennbar.  
    nancy: sein ausgang brachte ein kräfteverhältnis zum ausdruck, legte aber auch die bedingungen für politisches handeln in berlin (mit) fest. einige von vielen auswirkungen: "berliner linie" = zerschlagung eines wichtigen teils linksradikaler politik, der hausbesetzungsbewegung. linke handlungsunfähigkeit -- z.b. konnten so wichtige projekte wie radio_100 danach nicht gehalten werden (auf der wellenlänge verdummt heute gafrons dudelfunk die hausfrauen). disziplinierung der (grünen) a.l., die damals eine linksliberale bürgerrechtspartei waren. (eine renate künast hat daraus gelernt. sie bekam da die bedingungen diktiert, zu denen sie jetzt ministerin sein darf). und...  
    nancy: die große koalition, mit ihren schweren folgen für die stadt. -- das soll nicht falsch verstanden werden. geschichte besteht aus unzählbaren situationen, in denen weichen gestellt werden. nie ist die abfolge von ereignissen völlig zwangsläufig (sonst wäre politisches handeln sinnlos). der rot/grüne senat hätte auch später am potsdamer platz zerbrechen können, radio_100 hätte (etwas schwerer) auch gegen widerstand einer noch handlungsfähigen linken enteignet werden können und aus den besetzten häusern wäre vielleicht so etwas geworden wie aus den meisten häusern in westberlin. ob es so oder anders gekommen wäre, kann sich nicht mehr herausstellen, denn die fäden wurden vorher abgeschnitten.  
    nancy: also, ganz dialektisch: der kampf um die mainzer straße endete mit einer niederlage, der viele weite niederlagen folgten (zu deren bedingungen die erste jeweils gehörte, auch wenn sie nicht ihr einziger oder wichtigster grund war). umgekehrt wäre ein durchsetzen der straße allenfalls ein kleiner sieg gewesen. er hätte viele weitere kämpfe nach sich ziehen müssen, für sie aber die ausgangsbedingungen leichter gemacht. -- (tut mir übrigens leid, dass sich das nicht kürzer sagen ließ. und ich hoffe, es lässt sich NICHT als revolutionsromantik missverstehen.)  
    Sascha B.: Nein, Nancy, was Du geschrieben hast, lässt sich nicht als Revolutionsromantik missverstehen. Aber eben auch nicht als folgenloser Kampf. Mich als jemand, der die "Mainzer Str." damals nur von aussen und gelegentlich erlebt hat (bei Veranstaltungen und Lesungen z.B. - Schernikau!) interessiert vor allem das: was bleibt. Und ich habe es schon oben geschrieben: Euch "Veteranen" verdanke ich einiges. Aber persönlich! Politisch muss ich da schon fast eher Muttis deprimiertem Urteil zustimmen. Ihr wart immer dabei (und auch "federführend" beteiligt), wenn wir (die "Nachgewachsenen") Aktionen gemacht haben. Aber im Nachhinein (von meiner Warte aus): Es war immer "nur Notwehr"...  
    Mutti: @Nörgelkid: Dummerweise bin ich auch gerade mal wieder pleite und kann dir keine DM 100,- leihen. Vieleicht ein anderes mal.  
    Mutti: Weltbilder sind mit der Räumung eher nicht zusammengebrochen. Wer von den Veteranen vorher linksksradikal war, war's hinterher auch und wer vorher diffus links und schwul war, ist es hinterher auch geblieben. Wenn irgendetwas prägend war, waren es die Grenzen unserer Militanz. Bei dem dreitägigen Straßenkämpfen um die Mainzer konnten wir halt nicht gewinnen. Die hatten den ganzen Polizeiapparat (MEK, SEK usw.) aufgefahren und angefangen mit scharfer Munition zu schießen. Da ging nix mehr und ich finds legitim hinterher von bestimmten Widerstansformen die Nase voll zu haben.  
    viola fancy-faltencreme: sascha, herzchen, mit dem alter kann ich gern zurückdissen, da trennt uns wohl wenig mehr als ein paar monate. wenn du also eine "nachwuchs" bist, dann aber ein äußerst langsam gereifter... ;-)  
    Lore: nancy, aus deiner analyse wird mir jetzt immer noch nicht klarer wo der große unterschied des potenzials der mainzer zu kreuzberger hausprojekten liegt. also was ein "sieg" für grundlegend anderer effekte gehabt hätte als die sanierungen im kreuzberger kiez. das heißt ja nicht, dass ich diesen sieg nicht gewünscht hätte. ich versuche nur seine dimension realistisch einzuschätzen.  
    Sascha B.: Ach, Viola, es gibt ein biologisches und ein soziales Alter, nicht wahr? Wenn ich mit 26 Dinge angefangen habe, die andere mit 18 begannen, dann bin ich diesen Gleichaltrigen gegenüber schon durchaus "Nachwuchs"... seufz... ;-)  
    Mutti: Liebe Lore. Nancys Vortrag hat dich also nicht überzeugt. Hm. Schade irgendwie. Jetzt gerade fällt mir aber auch nix Besseres dazu ein. Ich denke mal darüber nach und wenn mir was einfällt, werde ich es hier zum besten geben. In der Hoffnung dich dann überzeugen zu können. Versprochen.  
    Nachschlag Thema Antiquariat Mainzer Str: 5.11. 20:15 bis 21:00 Dokumentation; Walter Sedlmayr - Tod eines Volksschauspielers auf 3sat.