Billy Elliot's One Way Ticket
Billy Elliot's One Way Ticket
(C)UIP
Um einem Missverständnis vorzubeugen: dies ist keine Filmrezension, sondern ein Text über Veränderungen im Gefüge des Kapitalismus, die etwa um die Wende der 70er auf die 80er Jahre deutlich sichtbar wurden. Und um einem zweiten Missverständnis vorzubeugen: natürlich ist "Billy Elliot" ein wunderschöner Film... (Falls Sie ihn noch nicht gesehen haben - einige Beschreibungen sind eingeflochten.)

Der Film spielt in einer Übergangszeit. Gegen Ende der 70er Jahre war die Krise der fordistischen Form des Kapitalismus offenbar. Sinkende Profitraten hatten zu Rationalisierungen und steigender Arbeitslosigkeit geführt. Sinkender Profit ist dem Kapitalismus der Horror und dieser Horror setzt den wesentlichen Zwang, dem er unterliegt: die Produktions- und Verwertungsbedingungen ständig umzuwälzen. So hatte im Gefolge des Rationalisierungszwangs der Aufstieg einer neuen Produktionsweise begonnen, die des computerisierten bzw. High-Tech-Kapitalismus. Der zu Ende gehende Fordismus war vor allem durch drei Elemente gekennzeichnet

* durch eine Arbeitsteilung, in der die Einen festlegen was produziert wird, entwerfen und vermarkten, und die Anderen die Güter am Fließband herstellen ("Taylorismus") - diese Trennung in Entscheidungskompetenz und Ausführung findet sich nicht nur in Produktionsunternehmen sondern in allen Bereichen der Gesellschaft;

* dadurch, dass Massenkonsum die Reproduktion des Kapitals sichert - notwendig war dazu idealerweise Vollbeschäftigung, die breiten Bevölkerungsschichten Einkommen sichert, und zugleich eine ausbeuterische internationale Ordnung;

* und durch eine bestimmte Form der Institutionalisierung sozialer Kämpfe, in der Gewerkschaften eine große Rolle spielen und die über einen sog. "Klassenkompromiss" den (oft sozialdemokratisch regierten) Wohlfahrtsstaat begründet.

Dabei war das Kapital relativ ortsbeständig, soziale Kämpfe hatten den Nationalstaat zum Rahmen. Doch diese Zeit ist vorbei.

In der neuen Produktionsweise jagt das Kapital (im Sinn des Wortes:) innerhalb von Sekundenbruchteilen um den Erdball. Die Finanzmärkte sind "frei"gegeben, sind also frei, allein ihren eigenen Zwängen zu folgen - die Nationalstaaten greifen in Kapitaltransfers nicht mehr regulierend ein. Nicht in Sekunden, aber doch erheblich schneller als vorher, können auch Produktionsstandorte dorthin verlagert werden, wo die Verwertungsbedingungen am günstigsten sind (wo also die Löhne am niedrigsten und Arbeitsverhältnisse am wenigsten gesichert sind). Die Nationalstaaten konkurrieren darum, dem Kapital die besten Bedingungen zu bieten, und dies erscheint als sog. "Sachzwang", als einziger Weg, ein befriedigendes Einkommen für (fast) alle zu sichern. Sozialleistungen werden immer weiter eingeschränkt und die Gegenwehr mit Verweis auf leere Kassen erstickt. Zugleich lässt sich mit neuen Technologien und neuen Strategien märchenhaft viel Geld verdienen (am besten bekannt ist das Beispiel Microsoft). Scheinbar muss man sich nur auf das Neue einlassen, z.B. eine eigene Firma gründen statt angestellt zu arbeiten, um richtig reich zu werden. Oder allgemeiner gesagt: Jede und jeder muss unter dieser neuen Regulationsform ihren, seinen eigenen Weg finden und dann Erfolg haben. Die Geschichte vom Tellerwäscher, der Millionär wurde, gab es längst. Aber die neuen Geschichten funktionieren anders. Alt war: Pass dich an und setze dich durch! Neu ist: Finde heraus, wie du bist, verwirkliche dich selbst, und hab damit Erfolg!

(C)UIP

Dieser Umbruch ist Hintergrund des Films. Er spielt während des letzten großen Streiks in Großbritannien, kurz nachdem die konservative Premierministerin Thatcher ihr Amt antrat. Der Politik, die sie vertrat, musste es ein wichtiges Anliegen sein, den Gewerkschaften ihre Kampfkraft und ihren Einfluss zu nehmen. Denn Ziel dieser neoliberalen Politik war und ist, die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu verbessern - das heißt: Abbau von Sozialstandards (der sog. Lohnnebenkosten), Druck gegen Flächentarifverträge, um damit niedrigere Löhne (bzw. eine sog. Einkommensspreizung) zu erreichen, etc. Ihren Ausdruck findet diese Politik zunächst z.B. in der Vertreibung von ArbeitnehmervertreterInnen aus Entscheidungsgremien, in der Änderung von Gesetzen, die die Artikulation der Interessen von Kapital und Arbeit und die Austragung von Kämpfen zwischen diesen Interessen regulieren, und in der Etablierung einer öffentlichen Meinung über diese Interessenskämpfe. Also in ganz praktischen Veränderungen, und eine dieser Veränderungen ist die Schließung von Kohleminen zwecks Einsparung von Staatsausgaben und die Entlassung großer Teile der Belegschaft in die Armut, gegen die der Streik im Film sich richtet. Völlig erfolgreich waren die Konservativen in der öffentlichen Meinung übrigens noch nicht zu der Zeit, von der der Film handelt. Zwar verurteilt ein Mittelschichtsmann (der Ehemann von Billys Lehrerin) den Streik, unrentable Betriebe müssten ja sonst vom Staat bezahlt werden. Doch später (in der Tanzschule, an der Billy sich bewirbt) wird seinem Vater von Wildfremden viel Glück für den Streik gewünscht. Aber der Film entscheidet nicht, denn seine Hauptfigur bleibt ambivalent: Billy fragt nach dem Beruf des Mittelschichtlers, der höherer Angestellter war und arbeitslos ist - und grinst. Kann sein, weil er seiner Familie verbunden ist und die im Streik die einzige Möglichkeit sieht, ein ausreichendes Einkommen für die Zukunft zu sichern. (Während des Streiks lebt sie in bitterster Armut.) Vielleicht grinst er aber auch, weil der Typ erfolglos ist, ein Trinker, den seine Frau aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geworfen hat.

GroßmutterAber der Reihe nach. Billy lebt in einem kleinen Ort in Wales. Mutter gestorben, Vater und älterer Bruder Bergarbeiter, und es gibt eine nette altersschwachsinnige Großmutter im Haus. Es ist Streik, es kracht, und zwar richtig. Die Busse mit Streikbrechern haben vergitterte Fenster, weil sie mit allem beworfen werden, was es gibt. In dem kleine Ort sind überall Bullen und sie sind brutal - z.B. auf der Jagd nach einem Radikalen (Billys Bruder), der durch den Ort gehetzt, niedergeritten und blutig weggebracht wird. Immer ist dabei eins offensichtlich: dieser Kampf der Arbeiter gegen Staat und Kapital ist ein Kampf der Männer. Zwar haben Frauen eine Küche für die Streikenden eingerichtet und deshalb müssen die Jungen aus Billys Boxkurs den Saal mit den Mädchen aus der Tanzklasse teilen. (Erst so kann er zu seiner Tanz-Leidenschaft finden.) Zu sehen sind sie aber nicht. An der direkten Eskalation sind immer nur Männer beteiligt und im Streiklokal sind Frauen nur Serviererinnen. Das ist im doppelten Sinn kein Zufall: natürlich arbeiten in Kohlegruben fast ausschließlich Männer, doch die dargestellten Arbeiterkämpfe sind neben den praktischen ökonomischen und politischen Auseinandersetzungen auch symbolische Kämpfe und die Abwertung von Frauen - oder genauer gesagt: aller Formen von Weiblichkeit - ist ihnen von vornherein eingeschrieben. Die scheinbaren sozioökonomischen Ursachen dafür - etwa, dass Frauen in der kleinfamiliären Arbeitsteilung historisch ein anderer Ort zugewiesen war und sie deshalb seltener in Fabriken arbeiteten - gehören selbst in die hierarchisierte Ordnung, die sich auch in den proletarischen Männerkämpfen ausdrückt. Das ist eine Frage der Repräsentation. Natürlich gab und gibt es Streiks, an denen Frauen beteiligt sind oder die mehrheitlich von Frauen getragen werden. Diese werden aber anders wahrgenommen in der Öffentlichkeit (z.B. anders dargestellt in der Presse oder in der Kunst): Im Film "Billy Elliot" treten die streikenden Männer in eine symbolische Arena, wo sie ihren Gegnern gleichwertig gegenüber stehen, sie sind sichtbar.

Ganz offensichtlich ist die heterosexuelle Männlichkeit hier ein Organisationsprinzip des Streiks. Der Teilnahme am Streik liegt nicht nur ein rationales sozioökonomisches Kalkül zu Grunde - etwa von der Art: 'mein eigenes Risiko entlassen zu werden ist zu hoch, deshalb streike ich' -, sondern auch Emotionalität: Zum einen sind es Gefühle von Solidarität (die sich kritisch als männerbündische Struktur lesen lassen), zum andern gibt der Streik seinen Teilnehmern einen sozialen Ort, sichert ihnen auch die Partizipation an der (kämpfenden) heterosexuellen Männlichkeit. Zwei Szenen verdeutlichen das: Vater und älterer Bruder treffen einen Streikbrecher im Supermarkt. Die Konfrontation bleibt verbal, allerdings mit körperlichen Drohgebärden, und der Verräter muss das Feld räumen. Sie haben gesiegt. Weil sie zwei waren, weil sie für das Richtige kämpfen, weil es ihr Revier ist. Die andere Szene spielt, nachdem der Vater Billys Talent (etwas unvermittelt) akzeptiert hat und unterstützen will. Er braucht Geld für die Schule, ist also in seiner Funktion als Ernährer angerufen und entschließt sich selbst zum Streikbruch. Als der ältere Sohn ihn sieht, holt er ihn wieder vom Werksgelände und der Vater bricht zusammen. Zu tief reicht der Streik in sein Selbstbild, als dass er ihn so einfach aufgeben könnte. Doch keiner der Gründe für diesen Zusammenbruch - Verrat und Ehrlosigkeit, persönliche Niederlage, Austritt aus der Gemeinschaft der Kämpfenden - lässt sich verstehen ohne Bezug auf die kämpferische heterosexuelle Männlichkeit.

Billy geht sonntags zum Boxtraining. Weil er einen Übungskampf verloren hat, muss er nach Ende der Stunde allein weitermachen und sieht die Mädchen tanzen. Ohne genau zu wissen wieso, tanzt er mit. Einige Zeit später boxt er überhaupt nicht mehr, sondern trainiert nur noch Tanz. Er weiß, dass der Vater dagegen wäre, und versteckt zu Hause die Ballettschuhe. Aber der Boxlehrer ist ein Kumpel des Vaters und erzählt ihm auf Streikposten von Billys Allüren. Daraufhin wird Billy aus der Stunde geholt. Es folgt ein dramatischer Dialog und der Vater verbietet weitere Teilnahme. "Lads do football" (Jungs spielen Fußball): das ist der Aufruf an den Sohn, in die Art von Männlichkeit hereinzuwachsen, die auch der Vater selbst lebt - eindeutig heterosexuell, kämpferisch, Versorger einer Familie (Billy soll sich um die Oma kümmern). Doch die Leidenschaft siegt und Billy übt heimlich mit der Tanzlehrerin. Symbolisch ist dies auch ein Kampf zwischen zwei Arten von Männlichkeit. Der Generationenkonflikt stellt klar, was alt und was neu ist. Der traditionellen Männlichkeit des Vaters steht in der Figur Billy eine modernisierte, sich gerade erst herausbildende gegenüber, die unkonventionelle Wege geht, um sich (allein) selbst zu verwirklichen. Diese neue Form bleibt auch sexuell ambivalent. Zum einen ist Billy noch ein Kind. Zum anderen aber ist diese Figur als ambivalent inszeniert. Es gibt eine Szene, die eigentlich auf einen Kuss mit seiner Freundin, der Tochter der Tanzlehrerin, hinausläuft - doch der Kuss findet nicht statt. Auch seinen Freund Michael, der gern Mädchenkleider trägt und Billy sogar seine Verehrung gesteht, hält er auf Abstand. Statt Romanze gibt es Ballett, also Selbstverwirklichung.

(C)UIP

Übrigens erzählt Michael, dass sein Vater ebenfalls gern die Kleider der Mutter trägt - aber nur, wenn er sich allein zu Hause wähnt. Es gibt also auch in der älteren Generation Abweichungen von der Norm (und hat sie natürlich zu allen Zeiten gegeben). Sie sind jedoch unsichtbar, die Figur dieses Alten taucht im Film nicht auf.

Die Tanzlehrerin ist eine Mittelstandsfrau mit proletarischem Habitus, die heftig raucht. Da ihr Mann arbeitslos geworden ist und sie selbst wohl nicht viel verdient, wird die Familie im sozialen Abstieg begriffen sein. Immerhin wohnt sie in einer ganz anderen Sorte Haus als Billys Familie (wo der Vater zu Weihnachten das Klavier verheizt, damit es einmal warm ist und damit der Junge die Flausen aus dem Kopf kriegt, denn er klimpert zu oft). Die Lehrerin fördert Billys Talent - zuerst subversiv, in heimlichen unbezahlten Trainingsstunden, später in einer wütenden Diskussion mit dem Vater und dem Bruder von Billy. In dieser Auseinandersetzung treten deutlich Klassenkonflikte hervor: die Lehrerin wertet z.B. die Armut von Billys Familie ab. Vater und Bruder dagegen halten ihre Pläne für Ansichten einer reichen Spinnerin. Wieder ist Billy ambivalent: Er bricht aus der Szene aus, rennt in den engen Hinterhof, tanzt die Wände hoch, aufs Dach und durch die Stadt, bis er an einer Straßensperre nicht mehr weiter kommt. Er stellt sich also weder klar auf die Seite der Mittelschichts-Lehrerin noch auf die Seite seiner proletarischen Familie. Wiederum: er ist für Entscheidungen zu jung. Aber auch das hat Symbolwert (es geht nicht um das Leben eines konkreten Menschen, sondern um Bilder, die der Film zeigt). Ambivalenz, Unentschiedenheit gehört zu der Form, in der die Figur Billy 'er selbst' ist.

In dem Film gibt es zwei Grundkonflikte. Zum einen kämpft Billy gegen den Vater und dessen Stellvertreter (älterer Bruder, Boxlehrer etc.) um seinen eigenen Weg - was auch heißt: um seine eigene, modernisierte Form von Männlichkeit. Zum andern kämpfen ein "männliches Prinzip" (Vater, Bruder etc.) und ein "weibliches Prinzip" (die tote Mutter, der das Klavier gehörte und die in ihrem letzten Brief schrieb: "always be yourself", die Tanzlehrerin und die Großmutter) gegen einander. Die Entdeckung und Förderung von Billys Talent durch die Lehrerin wird ab Mitte der 90er Jahre "Emotionale Intelligenz" genannt und Frauen als quasinatürliche Fähigkeit zugeschrieben werden. Der erste Konflikt wird im Film nicht entschieden: Billy geht zur Royal Ballett School und tanzt am Ende seine erste Hauptrolle, Vater und Bruder sind stolz unter den Zuschauern. Doch der zweite Konflikt verbleibt in der Ausgangskonstellation, in der Frauen nicht repräsentiert sind: In der Schlussszene jedenfalls sind keine anwesend. Ihr Platzhalter ist Michael im Drag, aber er hat den Weg Billys hierhin nicht mit bereitet, sondern war der verlassene Kinderfreund. Zurück geblieben wie die Lehrerin, ihre Tochter, die Großmutter und das wöchentlich besuchte Grab der Mutter.

Zugleich aber führt Michaels Anwesenheit eine Brechung in die alte Anordnung ein, immerhin sitzt er da als gepflegte Tunte (und muss das Ticket wohl von Billy haben). Michael steht auch für Vervielfältigung und Modernisierung, er ist selbstbewusst, lebt auch in die Stadt, und sein Begleiter ist der einzige Schwarze im ganzen Film - das lässt genügend Spielraum auch für progressive Interpretationen. (Si

e sind nicht zwingend.) Der Film zeigt u.a. eine neue Form von Individualität, die vor dem Hintergrund von sozialen, ökonomischen Umbrüchen entsteht. Zu ihren Wesenszügen gehören

* Leistungsbereitschaft, also: hart zu arbeiten aus eigenem Antrieb, um sich selbst zu verwirklichen,

* Einzigartigkeit, im Sinn von: viel weniger eingebunden, Teil einer festen sozialen Gruppe zu sein, und

* Ambivalenz, Uneindeutigkeit, sich nicht festlegen, hin- und herschwanken.

Die meisten von uns werden diese Züge an sich selbst wiedererkennen. - Und nun fragt sich, wie unter all den herumlaufenden leistungsbereiten Einzelwesen, die sich nicht festlegen wollen, Solidarität entstehen kann?

zurück

-- von New C