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Auszug aus dem Redetyposkript von Sascha Berlinskij (Schwule Antifa Berlin) zur gemeinsamen Veranstaltung mit dem Schwulen Überfalltelefon im Antifa-Café Berlin-Wedding am 19.3.1995 zu "antischwuler Gewalt"


(Am 4.6.2001 auf gut ein Drittel gekürzt - Kürzungen nicht vermerkt - und auch nach sechs Jahren noch für angemessen befunden - vom Autor.)


Antischwule Gewalt ist in unserem Verständnis eine Form unter vielen von Gewalt gegen Minderheiten, die wir in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang sehen und, über die konkreten Fälle physischer Misshandlung hinaus, als strukturelles Problem, mit dem man sich deshalb politisch auseinandersetzen muss und sich nicht auf eine bloss kriminologische Perspektive beschränken darf.

Dass ein Schwules Überfalltelefon konzeptionell sinnvoll ist, wird von uns nicht bestritten, aber wir wollen auf folgende Schwierigkeiten hinaus:
- Welches Bild von antischwuler Gewalt und welches Bild von Schwulen in dieser Gesellschaft wird durch die reformistische Ausrichtung des Schwulen Überfalltelefons, durch seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit vermittelt und verstärkt?
- Welche politischen Möglichkeiten werden negiert oder bleiben, neutraler gesprochen, auf der Strecke, wenn man antischwule Gewalt als eine Kumulation von Einzelfällen ansieht, als eine von vielen Formen von Kriminalität und nicht als Folge oder Epiphänomen von Repression?
- Wie können wir eine Solidarisierung der Opfer untereinander und Aller, zunächst einmal aller Schwulen, mit den Opfern erreichen; und das bedeutet für uns zwangsläufig: wie können wir die schwule Szene politisieren?

Die aktuelle Werbung des Schwulen Überfalltelefons zeigt einen Bildausschnitt, in dem eines seiner Mitglieder und ein Polizist gemeinsam einem Opfer wieder auf die Beine helfen. Der Text dazu: "Wir sind für Dich da.". Jedem, nicht nur jedem Schwulen, der die deutsche Polizei noch auf andere Weise kennengelernt hat als nur beim Handzeichen geben im Verkehrskindergarten, muss diese Werbung wie ein Hohn erscheinen. Sie ist nicht nur zynisch gegen die Opfer polizeilicher Übergriffe als Ergebnis der strukturellen Gewalt staatlicher Organe gegen Minderheiten, sie missachtet selbst die ambivalenten Gefühle des angepasstesten bürgerlichen Schwulen, oder zutreffender: Homosexuellen, der im Falle einer Anzeige fürchten muss, dass sein Doppelbleben, sein Versteckspiel unter Bekannten, Kollegen, in der Öffentlichkeit auffliegt.

Kann es ein emanzipativer Akt sein, auf Bürgerrechte zu pochen, den Schutz durch Menschen und Institutionen in Anspruch zu nehmen, die einen erheblichen Anteil haben an der Diskriminiereung der Minderheit, der man angehören will? Nein: wer sich auf staatliche Organe beruft, verlässt oder zurückzieht, der will dieser Minderheit nicht angehören; er will überhaupt keiner Minderheit angehören; er ist nicht schwul, er ist homosexuell; alles in ihm drängt dazu hin, in der Mehrheit möglichst vollständig aufzugehen, und er wird zu iherer sozialen Kopie. Als guter Konsument umwirbt man ihn, als berufliche Erfolgreichen achtet und beneidet man ihn, und als Ehemann mit seinem Ehemann reproduziert er daheim die Neurosen der bürgerlichen Familie.

Wer auf Ordnungen und Institutionen setzt, die strukturell antischwule Gewalt hervorbringen und konservieren, der mag noch so erfolgreich sein in seiner Arbeit gegen manifest antischwule Gewalt - er kommt dem Phänomen nicht bei. Die Kritik antischwuler Gewalt kann deshalb nur eine Kritik sein des Staates, der Kirche, der Familie - und eines wirtschaftlichen Systems, das entscheidend von Gewalt als innerem Prinzip geprägt ist.

Homosexuelle haben sich so nützlich gemacht für das allgemeine Wohl und wollen nicht länger Sündenböcke sein. Sie schauen sogar weg, wenn Gewalt gegen einen von ihnen ausgeübt wird, vor ihren eigenen Augen. Wie können sie sich da mit anderen Opfern solidarisieren; wie können sie begreifen, dass ein Migrant, ein Rollstuhlfahrer, ein Obdachloser ihnen nähersteht als ihnen angenehm ist. Der Rassismus, die Behindertenfeindlichkeit und die soziale Diskriminiereung sind unter Homosexuellen genauso verbreitet wie unter Heteros. Das spricht nicht nur gegen diese Gesellschaft; es spricht in erster Linie gegen die Homosexuellen.

Der Kapitalismus braucht die Schwulen nicht, aber er kann sie benutzen - das ist ein grosser Unterschiede. Der Kapitalismus ist auch deshalb erfolgreich, weil es ihm gelingt, noch jede Minderheit in seine Verwertungsprozesse zu vereinnahmen. Viele Minderheiten, und so auch die Schwulen, wehren sich gegen die Erkenntnis, dass mit dieser Vereinnahmung ihr emanzipatorischer Charakter hinfällig wird.