Tuntenhaus Mainzer Straße
Der kurze Sommer der Anarchie

Als 1990 in Ost-Berlin die ersten Häuser besetzt wurden, fand sich auch eine Gruppe schwuler Autonomer von zunächst vier Leuten, die dort ebenfalls besetzen wollten.

Im Umfeld des neugegründeten Café Anal und des SchwuZ wurden weitere Schwule/Tunten für das Projekt "gecastet", so dass die Gruppe schließlich etwa ein Dutzend Leute umfasste. Auf eine Anzeige in der Interim (Berliner Autonomen-Gazette) hin, in der besetzungswillige Gruppen und Projekte gesucht wurden, begaben sie sich auf ein Treffen im Veranstaltungsraum der Elisabeth-Kirche (Berlin-Mitte). Hier wurde ihnen und den beiden noch interessierten Hetero-Gruppen vorgeschlagen, sich in der halb leerstehenden Mainzer Straße in Friedrichshain anzusiedeln.

Auf der revolutionären 1. Mai Demo 1990 wurde die Besetzung des Hauses im Tuntenblock kundgetan und weitere Tunten akquiriert. Das Tuntenhaus in der Mainzer Nr. 4 war eines der ersten besetzten Häuser in der Straße. Da das schwule Umfeld das Haus mit großzügigen Sachspenden unterstützte und sogar bei Reparaturarbeiten half, schritt die Instandbesetzung schnell voran (Gemeinschaftsküche einrichten, Strom und Fenster überall...).

Da die Tuntenhaus-Gruppe ebenso wie die restliche Besetzerszene in der Mainzer Straße zunächst fast nur aus Wessis bestand, wurde beschlossen, gezielt schwule Ossis anzusprechen. Also luden die Tunten beispielsweise bei Homo-Tanzveranstaltungen in der Buschallee (die Ost-Homo-Disco) Besucher zum Kaffeekränzchen ins Tuntenhaus ein. Nach und nach zogen dann auch einige "Quoten-Ossis" ein, so dass schließlich etwa 30 Schwule dort wohnten. Damit war das Tuntenhaus im Vergleich zu anderen Häusern personell relativ gut besetzt.

Die DDR-Vopos waren umgänglich und wiesen die Hausbewohner freundlich darauf hin, dass Gäste in ein Hausbuch einzutragen seien. Als die Nazibedrohung der Mainzer Straße akut wurde, boten die Vopos eine Sicherheitspartnerschaft an und versuchten rechts und links gegeneinander abzupuffern. Viele der Bewohner betätigten sich vorher nicht aktiv in der Polit-Szene, nun zogen die Tunten von einem Plenum zum nächsten, denn die Plena-Schwänzer sollten den Abwasch machen. Auch auf den Tuntenhaus-Plena dominierten politische Themen und der Stil der Polit-Aktivisten. Das Tuntenhaus war einerseits eingebunden in die damalige linke Schwulenszene, wobei sich die Bewohner, meist in Mittelklassen-Familien aufgewachsen, zum Großteil von der bürgerlichen Schwulenbewegung distanzierten. Andererseits wollten die Tuntenhäusler als Schwule in der Besetzerszene aktiv sein. Da es in Teilen der Linken inzwischen Interesse an der Homo-Thematik gab und die Tunten häufig Moderatorinnenfunktion in der Besetzerbewegung übernahmen, wurde das Tuntenhaus das Maskottchen (vielleicht sogar das Aushängeschild) der Mainzer Straße.

Für die einen Tuntenhäuslerinnen stand der politische Aspekt im Vordergrund, für die anderen das Zusammenwohnen mit Schwulen. Bis zum Schluss teilten sich die Bewohner die Gemeinschaftsküche. In der Mainzer sollte "schwul und hübsch" nicht als Einzugsgrund ausreichen wie in der Bülowstraße, sondern auch politische Kriterien herangezogen werden. In der Realität wurde das dann nicht immer eingehalten. Stattdessen wurde auch das Argument angeführt: Wir haben ja noch genügend Platz. Für viele war das Haus ein wichtiger Sozialisationsort, in der Hauskneipe "Forellenhof" sowie bei Tuntenshows auf dem Hof kam auch der Spaßfaktor groß raus. Ehemalige sehen das Tuntenhaus-Experiment heute als sehr dynamisches Polit- und Wohnprojekt mit hohem Abenteuerwert.

Nach der Einverleibung der DDR setzte die Staatsmacht der BRD dem kurzen Sommer der Anarchie in der Mainzer in einer mehrtägigen Räumungsaktion am 14. November 1990 ein herbes Ende. Die Tunten flohen aber nicht, sondern bauten Barrikaden und blieben fast ausnahmslos bis zur Erstürmung durch die Polizei. Die Anordnung des regierenden Bürgermeisters Momper (SPD), die Mainzer Straße räumen zu lassen, die sich allmählich zum Zentrum der Berliner Besetzerbewegung gemausert hatte, führte zur Beendigung der rot-grünen Koalition in Berlin. Ein Vorgang, der sich mit der heutigen grünen Partei sicher nicht wiederholen würde.

Die US-amerikanische Regisseurin Juliet Bashore drehte zwei Filme über das Tuntenhaus. Im ersten ("The Battle of Tuntenhaus") geht sie neben dem Leben im Haus vor allem ein auf die Nazi-Bedrohung, die u.a. von dem von Rechten besetzten Haus in der Weitlingstraße ausging. Im zweiten interviewt sie Bewohner ca. 2 Jahre nach der Räumung.

von Urania Urinowa